Gemeinsam einsam

Die zwei Gesichter der Aufklärung: Al Pacino und Russell Crowe in Michael Manns Enthüllungsgeschichte „Insider“

Ein bekanntes Bild: Es zeigt Al Pacino inmitten von Menschen, die sein Leben, vielleicht sogar seine Heimat bedeuten und unter denen er dennoch einsam ist. Wir erkennen seine Einsamkeit darin, wie er seinen Kaffee trinkt, vor allem aber in seinem Blick, aus dem Zorn, Trauer und eine ganz eigene Form von Unverständnis sprechen: Seine Welt stimmt nicht mehr. In diesem Blick sind Figuren vereint wie der rebellische Anwalt Arthur Kirkland in … und Gerechtigkeit für alle, der integre Undercoverermittler Serpico oder Michael Corleone, dessen Leidensweg in der Pate-Trilogie immer tiefer in die Verlassenheit führt. Die Gestik des Einzelkämpfers Al Pacino – das haben uns seine Filme in vielen Variationen erzählt – ist im doppelten Sinne eine Haltung.

Pacinos Einsamkeit in Michael Manns Insider hat einmal mehr mit seinem Beruf zu tun. Er spielt Lowell Bergman, den Produzenten des berühmten CBS-Nachrichtenmagazins 60 Minutes. Und für alle, die noch nie etwas von 60 Minutes gehört haben, zeigt Insider gleich in den ersten Minuten, dass es sich bei Bergman und seinem Kollegen Mike Wallace (Christopher Plummer) um die letzten Dinosaurier des politisch ambitionierten TV-Journalismus handelt: Selbst ein mächtiger Hizbullah-Führer und dessen grimmige Leibwächter müssen sich für ein Interview ihrem Willen unterordnen. Derart vorbereitet, kann eine Geschichte beginnen, die vom Kampf um Recht, Wahrheit und Integrität handelt und die außerdem „auf wahren Begebenheiten“ beruht.

Eine Kinolegende, die ihre Geschichte verloren hat

Diese Geschichte wird jedoch erst spät die Geschichte von Lowell Bergman werden. Lange Zeit handelt sie vor allem von Jeffrey Wigand (Russell Crowe), der als Hauptbelastungszeuge einen Prozess gegen die Tabakindustrie anstrengt. Sie erzählt von jenem Tag, an dem Wigand als einer der führenden Wissenschaftler des Tabakkonzerns Brown & Williamson entlassen wird, und von jenem Moment, als er sich dazu entschließt, sein Insiderwissen mithilfe von Bergmans 60 Minutes gegen den Konzern zu richten.

Eine Kamera mit extremer Tiefenschärfe zieht uns in die Komplexität einer Familie hinein. Wigands trotziger Entschluss, seine Entlassung mit der Veröffentlichung skandalöser Informationen über Brown & Williamson zu beantworten, wirkt sich unmittelbar auch auf seine Frau Liane (Diane Venora) und ihre beiden Kinder aus. Ähnlich der Kameraperspektive, die immer wieder an Hinterköpfen vorbei ihre Objekte in den Blick nimmt, hat Wigand seine Entscheidung über die Köpfe der Familie hinweg getroffen. Sein Schritt bedeutet sowohl den Verlust des Hauses und anderer Sicherheiten als auch ein neues Leben unter dem Druck des Konzerns, der von Psychoterror bis zur direkten Bedrohung reicht. Im Augenblick, in dem die Familie zerbricht, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Entscheidung und Konsequenz. Jeffrey Wigands Rachefeldzug gegen Brown & Williamson ist nicht der heroische und symbolische Kampf Davids gegen Goliath. Vielmehr wird darin auch die eigensinnige Entscheidung eines Einzelnen erkennbar, der genau darüber erst zu einem Einzelnen wird. „Ich will bei meinem Ehemann bleiben“, lauten Lianes Abschiedsworte, „aber ich glaube, ich bin dazu nicht mehr in der Lage.“

All by myself: Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Tabakindustrie, ihrer gezielten Manipulation des Nikotingehalts, um Kunden abhängig zu machen, bilden in Insider lediglich einen realen Hintergrund, vor dem zwei Formen von Einsamkeit einander gegenübergestellt werden. Anders aber als in Manns Heat, in dem die beiden Protagonisten (Pacino und De Niro) zwei fast in sich geschlossene Filme zu einem verbunden hatten, bleiben Russell Crowe und Al Pacino streng voneinander getrennt. Selbst in ihren wenigen gemeinsamen Szenen, in denen Wigand sein Wissen an Bergman weitergibt und Bergman ihm die Spielregeln ihrer Zusammenarbeit erklärt, berühren sie sich kaum. Kein Zufall, dass sie fast nur über das Telefon oder gar per Fax miteinander verbunden sind. Es ist, als passten beide nicht in ein gemeinsames Bild; als hätte sich Insider ständig aufs Neue zu entscheiden, wessen Geschichte er erzählen will.

Ein gleichberechtigtes Nebeneinander beider Figuren wird es am Ende nicht geben. Der Film will einer werden, und indem sich Insider zum Schluss immer stärker auf Al Pacino konzentriert, hat er sich zugleich für eine einfachere, mythische Form der Einsamkeit entschieden. Hatten wir mit dem undurchsichtigen Jeffrey Wigand die Entstehung und die komplexen Hintergründe einer ganz persönlichen Einsamkeit verfolgt, so erleben wir mit Lowell Bergman eine Art Reaktivierung des alten Al-Pacino-Helden. Diesmal reitet er ein letztes Hurra für den investigativen Journalismus, zuletzt ganz und gar verlassen von seinen Kollegen, die zuvor noch auf seiner Seite gestanden hatten. Als sich der Druck des Tabakkonzerns auch auf seinen Sender auswirkt, erweist sich Bergman als der letzte Gerechte: ein Bollwerk integrer Männlichkeit, dem seine Frau bestenfalls eine emotionale Stütze ist. All by himself.

Damit begegnet uns in Lowell Bergman zugleich ein Heldenideal des New Hollywood der siebziger Jahre. Die beiden Unbestechlichen Dustin Hoffmann und Robert Redford sind ebenso Vertreter dieses Ideals wie Warren Beatty, der Zeuge einer Verschwörung. Sie und die Idee vom Kampf gegen ein korruptes System sind mit Pacino alt geworden – so wie die gesamte Redaktion von 60 Minutes, deren jüngstes Mitglied eben der Mittfünfziger Lowell Bergman ist.

„Fuck the rules.’“, schreit dieser schließlich seinem älteren Kollegen Wallace entgegen und zelebriert einen sauberen, mahnenden Abgang aus dem Nachrichtengeschäft. Ein Abgang, so seltsam unbeschadet und erhobenen Hauptes, dass diese Rückkehr zu den Wurzeln des Al-Pacino-Heldentyps zugleich dessen eigene Geschichte und die des New Hollywood verrät. Während sein Gegenüber Jeffrey Wigand Opfer und Miterzeuger jener Verhältnisse ist, die sein Leben zerstört haben, scheint Lowell Bergman von ihnen merkwürdig unberührt. Unbefleckt gebiert sich der Pacino-Held selbst jenseits aller komplexen Strukturen von Schuld und Sehnen, in denen Wigand stets gefangen bleibt.

Ein bekanntes und doch ein fremdes Bild: Im Gegensatz zu Michael Corleone, Serpico und all den anderen ist Lowell Bergman kein Teil jenes Systems, das es zu bekämpfen gilt. Seine „Freiheit“ jedoch erzählt nur davon, wie sehr diese Figur stattdessen gefangen ist im Mythos Al Pacino – in der leeren Geste des einsamen Helden, der das Unrecht nun von einer höheren Warte aus anklagt. Michael Manns Insider handelt darum nicht nur von Einsamkeit, sondern erzeugt sie zugleich selbst: Die Einsamkeit einer Kinolegende, die ihre Geschichte verloren hat.

Autor: Jan Distelmeyer

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: Die Zeit 04/ 00