Der schwere Mann im Bademantel

Wie geht Pubertät? „L.I.E. – Long Island Expressway“ von Michael Cuesta erzählt vom Leben in der Vororthölle

Eigentlich braucht es die Klammer nicht. Wenn das Ende den Off-Kommentar wieder aufnimmt, mit dem der 15-jährige Howie seine Geschichte eingeleitet hatte, kann längst kein Satz mehr den Schwebezustand fassen. Wir brauchen nicht zu wissen, dass der Long Island Expressway neben vielen anderen Menschen auch Howies Mutter das Leben gekostet hat. Die Balance des Jungen auf der Brücke über der Schnellstraße, die Ahnung von Selbstmord in der Auftaktsequenz, wirkt auch ohne seine Stimme: „Ich hoffe, er kriegt mich nicht.“

Wie geht Pubertät? Wohin führt coming of age? Michael Cuestas Spielfilmdebüt L.I.E. – Long Island Expressway rückt uns in die Perspektive des Howie Blitzer (Paul Franklin Dano), indem die Dramaturgie sich tastend aus der Unverständlichkeit vorarbeitet. Diese lichte Trägheit des gepflegten Vororts, das Haus mit dem Charme eines weißen Museums des oberen Mittelstands, der Vater mit der stumpfen Beischlafbeziehung zu irgendeiner jungen Frau und diffusen Problemen mit dem FBI und der eigenen Firma: In all das sind wir ohne Erklärung hineingeworfen, um uns einen Standpunkt darin zu suchen. Von erdrückender Leere spricht die Kamera, wenn in Totalaufnahmen von Howies Schule oder Elternhaus soviel blauer Himmel auf den Gebäuden lastet, als ob sie adrett den Erstickungstod erleiden müssten.

Sexualität, Neugier und neue Nähe werden Fluchtpunkte in einer Bewegung, die über Howies besten Freund Gary (Billy Kay) zu einem Mann namens Big John (Brian Cox) führt. Dessen Haus könnte als absurd düsterer Tempel amerikanischer Gotik die Hauptrolle in einem David-Lynch-Film spielen. Devotionalien des Vietnamkriegs sind das Fundament, die Klingel ertönt als Marschmusik des United States Marine Corps. Einladend wirkt im Dunkel des Innern nichts; dafür umso mehr geheimnisvoll und bedrohlich körperlich, allem voran der schwere Mann im Bademantel: „Hör mir zu: 12 Zentimeter ist eine Menge Schnee und Regen, aber nicht viel Schwanz. Ist deiner länger als 12 Zentimeter? Ich bin der beste Schwanzlutscher der westlichen Hemisphäre.“

Spätestens von diesem Moment an ist L.I.E. ein Film zwischen zweien – sowohl zwischen den Charakteren von Paul Franklin Dano und Brian Cox als auch zwischen einer klugen Offenheit und Figurenzeichnungen, die sich zu Klischees zu schließen drohen. Gerade wenn der Charakter des Big John allzu rund und zuhanden zu werden scheint – der „Schwanzlutscher“ ist natürlich Ex-Marine, Vietnamveteran, offenbar Rassist und noch dazu mit einer ständig am Telefon nervenden Mutter gesegnet – wird ein Gegenbild entworfen. Nahe liegende Versprechen erfüllen sich nicht, und dank Brian Cox ist Big John immer schon sowohl ein eigenwillig flirtender Kinderficker als auch ebenso seltsam fürsorglich.

Das drückende Vakuum der Vorstadt wandelt sich so zu einer unentschiedenen Klebrigkeit. Der Teenagerstrich am Long Island Expressway bekommt Gesichter; ihr gönnerhafter Stammkunde ist die einzige Hilfe, die Howie ungefragt findet, als sein Elternhaus komplett zusammenbricht.

Wie es schließlich in der ersten Nacht bei Big John nicht zum Sex kommt zwischen dem Quasivater und seinem suchenden Objekt der Begierde, ist der vielleicht schönste Ausdruck der Komplexität, die L.I.E. seinen zwei Hauptfiguren lässt. Selbst wenn bald darauf der zu erwartende Paukenschlag ihre Geschichte beendet und damit erneut vorgefertigte Bilder herzitiert, ist auch das nur die halbe Wahrheit. Gleichzeitig entspringt das Finale dem Realismusprinzip dieses Films, dass jede Bewegung – coming of age – Konsequenzen hat.

Autor: Jan Distelmeyer

Diese Kritik ist zuerst erschienen in der: taz 05/ 03