Eine Kuh fällt vom Himmel in Bachtiar Chudojnazarovs neuem Film

Der Augenblick, in dem es in Magnolia plötzlich Frösche zu regnen begann, war ein heikler und vielleicht auch ein heiliger Moment. Etwas absolut Verwunderliches gab es da zu sehen, das in seiner augenscheinlichen Unmöglichkeit die Grenzen der vergleichsweise realistischen Komplexität der Geschichte(n) von Magnolia zu sprengen schien. Ein Stück Kino, nur hier möglich, und dabei doch eines „von diesen Dingen“, die – platsch – einfach „passieren“, wie es im Film heißt. Hier brach etwas von oben herein, das beides war: eine in dieser Form fast höhnische Absurdität und gleichzeitig die Idee einer höheren Macht, die Gott heißen könnte und in jedem Fall Heilung, Gnade und das Gute möglich macht.

In Luna Papa, dem dritten abendfüllenden Spielfilm des russischen Regisseurs Bachtiar Chudojnazarov (Bratan, Kosh ba Kosh) regnet es am Ende nicht Frösche, sondern eine Kuh. Außerdem bleibt dieses absurd-reale Wunder hier nicht der einzige Moment dieser Art. Auf den ersten Blick trennen Luna Papa, eine Art Adoleszenz-Märchen aus Zentralasien, und das zur selben Zeit produzierte Hollywood-Drama Magnolia in jeder Hinsicht Welten, und dennoch sind sie durch den lakonischen Einbruch des Fantastischen auf wundersame Weise miteinander verbunden. Diese Dinge passieren.

Schon der Anfang ist auf seine Weise unmöglich. Aus dem Off begrüßt uns die Stimme von Chabibullah (Polina Rajkina), die uns von ihrer Zeugung und von der Schwangerschaft ihrer Mutter Mamlakat (Chulpan Hamatova) erzählen will. Eigentlich ist es also gar nicht Chabibullahs sondern Mamlakats Geschichte. „Mit ihr wird bald etwas geschehen“ beginnt Chabibullah, „dann wird sie meine Mama.“

Was sich von nun an entwickelt, hat soviel Tempo, Fantasie, absurden Humor und liebevolle Genauigkeit, als ob sich Emir Kusturica, Monty Python und Václav Vorlicek (Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, Wie soll man Dr. Mracek ertränken?) zusammengetan hätten, um ein neues Märchen aus Tausendundeiner Nacht auszuhecken. Die 17-jährige Mamlakat nämlich lebt in einem verlassenen Winkel unweit von Samarkand, möchte Schauspielerin werden (im „Ensemble Ernteglück“ spielt sie bereits eine Beere), hat sich aber eigentlich mehr um ihren verwitweten Vater Safar (Ato Muchamedschanov) und vor allem um ihren Bruder Nasreddin (Moritz Bleibtreu) zu kümmern. Letzterer ist seit dem Krieg in Afghanistan geistig nicht mehr ganz auf der Höhe und spielt den lieben langen Tag Krieg; genauer gesagt rennt er mit Wasserflaschen um sich werfend durch das Dorf, weil er Pilot und Flugzeug zugleich ist.

Das ist normal. Weniger normal dagegen ist – vor allem für die engstirnigen Dorfbewohner –, dass Mamlakat durch einen vorgeblichen Schauspieler geschwängert wurde, den sie nach einer einzigen seltsamen Mondnacht nicht wieder gesehen hat. Im Dunkeln waren sie zusammengekommen. Flüsternd, unsichtbar hatte er sie verführt und sich als guter Freund ihres größten Hollywood-Idols ausgegeben: „Ich liebe Top Cruise!“ – „Ah ja, Tok, der gute alte Tok. Lange hat er meine Hand geschüttelt …“ Ob nun Tom, Top oder Tok: Für Vater Safar steht fest, dass der Verführer gefunden werden muss. Und so machen sich Mamlakat, Safar und Nasreddin mit ihrem verstaubten Transporter auf, um im ganzen Land systematisch Theatervorstellungen zu sprengen, die Verdächtigen von der Bühne zu zerren und Mamlakat zur Gegenüberstellung vorzuführen. „Wir fahren alle Theater ab! Du wirst den Schuft erkennen!“

Bevor schließlich die Kuh vom Himmel fällt, verdreht sich die Geschichte noch zwei-, dreimal, bis zu dem Augenblick, als sich Mamlakat in den Tausendsassa Alek (Merab Ninidze) verliebt, der seinerseits einwilligt, ihrem Kind der gesuchte Vater zu sein. Dann stürzt das Rind hernieder, und zwei Menschen werden erschlagen. Dies ist noch nicht die letzte Wendung der Geschichte, denn der unvorhersehbare Fall, der darauf folgende Hass der Dörfler auf Mamlakat und das spätere, unglaubliche Happy End mitsamt Himmelfahrt sind Ausdruck des Prinzips von Luna Papa. Was dieses Prinzip mit den Fröschen von Magnolia verbindet, ist die Gleichzeitigkeit von trockener Absurdität und der märchenhaften, quasi religiösen Erscheinung eines „Wunders“, das uns so oder so unerwartet trifft. Diese Dinge passieren. Die Utopie, das Unmögliche oder mit anderen Worten: das Kino tritt in beiden Filmen genau dann in Kraft, wenn bereits alles am Ende zu sein scheint. Es verändert die Dinge: Zum Beispiel die Zukunft von Top/Tok/Tom Cruise in Magnolia und die Vergangenheit der Erzählerin von Luna Papa.

Autor: Jan Distelmeyer

Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 06/ 00