Was ist eigentlich so toll am Fernsehen? Eine ganze Menge, zu der auch der Vorzug gehört, daß das Fernsehen nichts von einem verlangt. Wir müssen es im Gegensatz zum Kino nicht aufsuchen, nicht in seinen Raum eintreten, weil es immer schon da ist, zur Einrichtung gehört und als geduldiges Inventar auf uns wartet, ohne Nebenbeschäftigungen oder Küchenbesuche zu verübeln. Wir bestimmen seine Laufzeit, und diese Freiheit ist natürlich auch die beste Grundlage, um abhängig zu werden. Z. B. von Serien, dem regelmäßigen Angebot einer anderen (gar nicht mal unbedingt schöneren) Welt an unsere Freiheit, letztere so für ca. 45 Minuten etwas einzuschränken. Die Serie ist vielleicht das Fernsehformat schlechthin: Wir gehören nicht dazu, sondern sie gehört uns.

Gary Ross‘ Regiedebüt Pleasantville dreht den Spieß um. „We’re supposed to be in color!“, stellt Jennifer (Reese Witherspoon) entnervt fest, als sie in einer schwarzweißen Welt auf die saubere Straße tritt. Vor wenigen Minuten erst war Jennifer mit ihrem Bruder David (Tobey Maguire) aus ihrer 90er-Jahre-Scheidungskinder-Realität mitten in Davids 50er-Jahre-Lieblingsserie „Pleasantville“ katapultiert worden. Schuld daran war die magische Fernbedienung eines so faltigen wie geheimnisvollen Fernsehtechnikers (Don Knotts) gewesen, der mit seiner Erfindung dem „Pleasantville“-Fan David den innigsten Wunsch erfüllt zu haben glaubt: „I was looking for somebody like you. You deserve it!“

„Pleasantville“ aber ist mehr als nur farblos. Hier herrschen die Gesetze des ProductionCodes und des weißen Harmoniediktats der 50er: kein Sex, keine Toiletten, keine Gewalt, keine Afroamerikaner, keine Reifenpannen, kein Feuer, keine Drogen, keine Kunst, keine Armut, kein Generationskonflikt, kein Regen. Dafür lächelt hier alles mit penetrant zähnebleckender Freundlichkeit, und das örtliche Basketballteam trifft mit wirklich jedem Wurf ins Netz. Um es mit Jennifers Worten zu sagen: „We are stuck in Nerdville.“

Der Witz von Ross‘ Regiedebüt Pleasantville liegt nicht darin, daß diese Idee etwas neues wäre. Fernbedienungsreisen ins Innere des Fernsehens hat es nicht nur in Hollywood (z.B. in Peter Hyams’ Stay Tuned), sondern sogar mit den notorischen „Supernasen“ Thomas Gottschalk & Mike Krüger in einer deutschen Version unter dem Titel Die Einsteiger bereits gegeben. In Pleasantville aber wird die Differenz zwischen Real- (d.h. hier immer: Film-) und TV-Welt weniger zur bespielbaren Plattform als vielmehr zum zentralen Thema.

Jennifer jedenfalls wird sich nicht an die strengen Regularien einer Fernsehgemeinde halten, in der die Feuerwehr allein für die Rettung von entlaufenden Katzen zuständig ist. Sie verführt einen der High-School-Boys und bringt damit die Sexualität nach Pleasantville. Mit diesem klassischen Sündenfall kommt neues Leben in das Städtchen. Tatsächlich sprießen bald die ersten Farbtupfer (natürlich rote Rosen) im gepflegten Grau, die sich nach und nach ausbreiten, je mehr Teenager sich für Rock ’n‘ Roll, Bücher und das andere Geschlecht interessieren. Wenig später laufen die ersten wortwörtlich „Farbigen“ durch die grauen Straßen. Selbst treue, auf Hackbraten spezialisierte Ehefrauen wie Betry Parker (Joan Allen) beginnen sich selbst und ihre Unterdrückung zu entdecken, was dazu führt, daß Männern wie George Parker (William H. Macy) der Alltag entgleitet. Die Rituale von Pleasantville gehen verloren, Georges Feierabendgruß „Honey, I’m home!“ verhallt unbeantwortet in der dunklen Eingangshalle, kein Dinner, und spätestens jetzt ist es für Bürgermeister Big Bob (J.T Walsh) an der Zeit, eine reaktionäre Bürgerwehr gegen die Veränderungen und die „colored people“ einzuberufen.

Leben heißt Veränderung. So ungefähr fomuliert Pleasantville die Antwort auf die Frage nach der Differenz zwischen TV-Serie und dem, was in diesem Film Wirklichkeit ist. Der aufblühende Diner-Wirt Mr. Johnson (Jeff Daniels) und die zunehmende Gewalt und Diskriminierung gegenüber den „Farbigen“ erzählen davon. Zugleich bilden die Ausschreitungen eine passende, geradezu hübsche RassismusParabel, mit der das technisch perfekte Wechselpiel zwischen Farb-und Schwarzweißbildern seinen dramatischen Höhepunkt erreicht. Wir dürfen die Bilder „ernst nehmen“, Klischees haben in dieser Stadt den Status von Polaroid-Aufnahmen.

Der Kampf um Pleasantville endet dort, wo er zwangsläufig enden muß, wenn Pleasantville konsequent bleiben will: im Gerichtssaal, dem traditionellen Zentrum von Wahrheit und Überzeugung in der amerikanischen Populärkultur. „Nothing supposes to be!“, spricht David hier die Logik seiner Geschichte aus, um die Starre der „Farblosen“ („Everybody will be happy again.“) gegen Neugier auf Veränderung zu ersetzen. Worauf es ankommt, sind Pioniergeist, Liebe, Freiheit und Gleichheit. Und in diesem Augenblick vereinigen sich auch die filmgeschichtlichen Paten von Pleasantville endgültig zu dem versöhnenden, ästhetisch-moralischen Bollwerk, das aus Der Zauberer von Oz und vor allem den Frank Capra-Filmen Mr. Smith geht nach Washington und Ist das Leben nicht schön? besteht. Das Ritual der Fernsehserie wird dekonstruiert mit den Mitteln eines anderen Rituals, das vielleicht älter aber immerhin Kino ist. Noch einmal obsiegt Bedford Falls über Pottersville. Vielleicht aber war das auch nur ein altmodischschöner Racheakt, der trotzdem zur Zeit der Truman Show seine Aktualität besitzt: Dem Fernsehen wird märchenhaft ein Mythos genommen, um ihn dem Hollywoodkino zurückzugeben.

Autor: Jan Distelmeyer

Diese Kritik ist zuerst erschienen in: epd film 03/ 99