Jagd auf die Meerjungfrau

Gegen die falschen Versprechungen der Handkamera: „Suzhou River“

Die freie Handkamera, ein altgedienter Ausdruck maximaler Authentizität, ist alles andere als frei. Sie ist gebunden an ihre eigene Legende, an das implizite Versprechen, sie suche sich zwanglos ihre Objekte, reagiere beweglich auf Veränderungen, habe also keinen fixen Standpunkt, sondern sei auf der Suche danach. Mit enormem Erfolg beglaubigt die Handkamera zurzeit den unmittelbaren Eindruck von Realität, nicht nur in Werken der Dogma-Bewegung. Mittendrin statt nur dabei; Thema und Zentrum der Aufmerksamkeit soll nicht die Inszenierung sein, sondern ihr Gegenstand. Um „Illusion und dramaturgische Vorhersehbarkeit zu bekämpfen“, gebietet das neunte Gesetz des Dogmas 95: „Zeitliche und geografische Verfremdungen sind verboten, der Film spielt im Hier und Jetzt.“ Das „Wie“ triumphiert als sichtbar unsichtbarer Gestus, als Markenzeichen des Authentischen, mit der das „Was“ in den Vordergrund rücken soll. Näher, meine Realität, zu dir!

„Ich bin Videofilmer – bezahle mich, und ich filme“, sagt die Stimme eines namenlosen Mannes, während uns seine Handkamera einen Eindruck von Shanghai verschafft. Von dem Fluss aus, der Lou Yes zweitem Kinofilm Suzhou River seinen Namen gibt, beginnen die Wege einer wandernden, streng subjektiven Videokamera, mit der wir zwei ineinander verwobenen Geschichten folgen werden. Regisseur Lou Ye, der vor allem außerhalb Chinas als Kopf einer „chinesischen Nouvelle Vague“ gefeiert wird, leiht dem Videofilmer seine Stimme. „Ich“, das ist Kamerablick und Sprache – ein Auftragsfilmer, der auf seine Freundin Meimei (Zhou Xun) wartet, die als schwimmende Meerjungfrau in einem Nachtclub auftritt. „Ich liebte es, sie anzuschauen und zu filmen“, hören und sehen wir. „Jedes Mal wenn sie die Tür hinter sich zuschlug, dachte ich, mein Leben hört auf.“

Die zweite Geschichte nimmt Gestalt an, als der Erzähler von Mardar (Jia Hongsheng) zu sprechen beginnt: von dessen Auftrag, Moudan (Zhou Xun), die Tochter eines Schmugglers, zu beschützen, von der Liebesgeschichte zwischen beiden, von Mardars Verwicklung in Moudans Entführung und von ihrem dramatischen Ende, als sie sich in den Fluss Suzhou stürzt. „Ich komme als Meerjungfrau zurück und finde dich wieder“, sind Moudans letzte Worte. Und Mardar wird auf der Suche nach ihr verzweifeln.

„Ich weiß auch nicht, wie es weitergehen könnte. Damit ist die Geschichte wohl zu Ende. Es sei denn, Mardar erzählt sie selbst weiter.“ Mit dieser Überleitung des Erzählers beginnt die vollständige und unlösbare Verquickung seiner und Mardars Geschichte. Zwei Männer umkreisen die Identität ihres Objekts der Liebe, suchen einen sicheren Zugriff, mit dem Meimei beziehungsweise ihre Doppelgängerin Moudan fassbar werden soll. Das weibliche Mysterium, zum Bild geworden als Andersens Meerjungfrau, scheint in diesem Märchen zum einzigen Fixpunkt zu werden – neben der beweglichen Handkamera, die diese doppelte männliche Suche nach Identität und Liebe unternimmt. Der Kreis muss sich endgültig schließen, wenn Mardar tatsächlich „seine“ Moudan finden wird. Geschlossen aber wirkt der Kreis die ganze Zeit. Die wiederkehrenden Bilder von mysteriöser, unnahbarer Weiblichkeit und der männlichen, verzweifelten Suche geben Suzhou River nicht nur eine märchen- oder besser: traumhafte formale Geschlossenheit. Gleichzeitig beschreibt diese Geschlossenheit radikaler noch als Hitchcocks Vertigo einen unheimlichen Teufelskreis der Wunschvorstellungen.

Die Handkamera bricht damit ihr Realismus-Versprechen. Als Projektionsmaschine männlicher Sehnsüchte ist sie nicht länger der verlässliche Übermittler, sondern der zweifelhafte Produzent von Wahrheit. Seine Schönheit erlangt Suzhou River vielleicht gerade durch dieses Doppelspiel des Blicks: Die subjektive Kameraperspektive wird sowohl unser Guckloch als auch ein Spiegel der dahinter ruhenden Haltung und Perspektive. „Kameras lügen nicht“, erklärt der Videofilmer zu Anfang, und auch hier, wo es um Liebe geht, „lügt“ sie nicht. Sie handelt von Vorstellungen und Projektionen, die uns eben mehr von einem bestimmten Blick und seinen Bedingungen preisgeben als von dem, was er zu erfassen sucht.

Autor: Jan Distelmeyer

Zuerst erschienen in: Die Zeit 40/2001