Alfonso Cuarón erzählt von der Suche nach sexueller Identität

Worum geht es? Zwei adoleszente Jungen im Würgegriff ihrer Hormone: ein furzendes Kumpelpaar aus Mexico City im Daueraustausch über Frauen und Sex, die richtig in Fahrt kommen, als die erwachsene Spanierin Luisa (Maribel Verdú) in ihr (Ferien-) Leben tritt. Es ist die Geschichte einer Reise in die sexuellen Phantasien von Tenoch (Diego Luna) und Julio (Gael Garcia Bernal), die sich mit der schönen Luisa in einem geliehenen Wagen auf den Weg zu dem imaginären Strand „Boca del Cielo“ aufmachen. Der Name des von ihnen erfundenen Strandparadieses. „Himmelsmund“, soll nicht nur das Reiseziel, sondern auch ihre Begleiterin beschreiben.

Bitte nicht. Die ersten Umrisse von … Y Tu Mama Tambien lassen Schlimmes befürchten, und wer zufälligerweise in den letzten Wochen auch noch die wirklich unterirdische Fortsetzung der Deppen-reden-mit-ihrem-Schwanz-Saga Harte Jungs durchgestanden hat, könnte nach dieser Ankündigung mehr als gewarnt sein. Vielleicht aber ist grade eine solche misstrauische Distanz gegenüber den verschwitzt-sexualisierten coming of age-Komödien dieser Tage die beste Voraussetzung für … Y Tu Mama Tambien. Das von Alfonso Cuarón (Love in the time of Hysteria, Great Expectations) inszenierte und mit seinem Bruder Carlos geschriebene mexikanische Roadmovie holt uns bei unseren Befürchtungen ab, so wie er die besten Freunde Julio und Tenoch mit ihren Träumen aufnimmt und beide in sie hinein schickt. Dass diese Reise letztlich direkt zu allen Beteiligten führt – zu Tenoch, Julio, Luisa und zu uns selbst – hat damit zu tun, wie unbarmherzig genau und liebevoll diese Bewegung beschrieben wird.

Es ist ein langer Weg vom luxuriösen Swimmingpool auf dem Anwesen von Tenochs steinreichem Vater bis zum Gästezimmer einer kleinen Bar irgendwo am Meer. Auf zwei Sprungbrettern über dem menschenleeren Pool werden Tenoch und Julio getrennt onanieren, um beim ausgerufenen Stichwort „Salma Hayek“ gemeinsam zu kommen. In besagtem Gästezimmer werden beide kurz vor Ende des Films autwachen, um künftig voreinander zu fliehen. Der Entwurf ihrer brüderlichen Machismogemeinschaft wird an sich selbst scheitern. (mit-)teilbar ist ihre Sexualität vor allem in Form projizierter Wünsche und Ängste: So nah jedoch, wie sich Tenoch und Julio auf dieser Reise kommen, hätten sie einen neuen Entwurf wagen müssen.

Diese Nähe, die sich zu uns auch über die begleitende und dadurch fast unsichtbare Handkamera herstellt, ist ursächlich mit Louisa verbunden. Zunächst ist sie genau das, was der Rahmen ihrer zwei Verehrer vorsieht: eine Phantasie. Sie ist aufzuladendes Geheimnis und nahbare Verführung gleichermaßen, bis die Wunschvorstellung lebendig wird und Konsequenzen fordert. Genau die Augenblicke, in denen sich der Wunsch der zwei Jungen erfüllt – Sex mit Louisa -, werden zu Ausgangspunkten jener Bewegung zwischen den Dreien, die in mehrfacher Beziehung den vorgesehenen Rahmen sprengt. Nicht nur, weil Louisa die Initiative übernimmt (und sie eigentlich immer schon hat), sondern auch, weil sie ein größeres Eigenleben beginnt als eine Projektionsfläche besitzen darf. Am Ende wird es dann auch nicht die Konkurrenz um Louisas Gunst sein, die Tenoch und Julio trennt -vielmehr ist die entstellende Kluft bereits in den Grundfesten ihrer Freundschaft angelegt, die zugleich mit der traditionellen Basis ihrer Mannerphantasien zu tun haben. Während eines Wutanfalls brüllt Louisa den beiden Streithähnen entgegen: „Ihr markiert euer Revier, dabei wollt ihr euch nur gegenseitig vögeln.“

Die Wahrheiten – zumindest in … Y Tu Mama Tambien – zeigen sich am Ende immer in den handelnden Körpern, am sichtbarsten dann, wenn die Sprache versagt: wenn z.B. Tenoch nackt und x-beinig unsicher vor Louisa steht. Das Zusammenspiel von Diego Luna, Maribel Verdú dem aus Amores Perros bekannten Gael García Bernal und der mobilen Kamera, unserem begleitenden Blick, teilt sich als eine Art unmittelbare Körperlichkeit mit. Zwischen den drei Reisenden jedenfalls ist gerade noch Platz für uns. Eine andere Wahrheit, die wir nicht sehen oder im Vorbeifahren höchstens erahnen, vertritt die Erzählerstimme, die aus dem Off von den Hintergründen und der Zukunft spricht. Von ihr erfahren wir u.a. von Korruption in Mexiko, vom Kampf der Chiapas-Rebellen, von Besitz- und Herrschaftsverhältnissen. Was … Y Tu Mama Tambien nicht direkt zeigen kann, weil es nicht zur Traumreise Tenochs und Julios gehört, soll dennoch nicht verschwiegen werden und gewinnt darüber eine nachhaltige Präsenz als Überbau.

Je länger der Film dauert, desto mehr vermischen sich seine zwei Ebenen, die man behelfsweise die körperliche und die philosophische nennen könnte. Aus der Körperlichkeit von … Y Tu Mama Tambien entwickeln sich die Fragen nach sexueller Identität und nach dem, was diese Identität mit der eigenen Lust und dem/der anderen gegenüber zu tun hat. Dass und wie wir vom Ausgangspunkt einer Jungenphantasie dorthin kommen, ist eine der spannendsten und überraschendsten Bewegungen, die es zur Zeit im Kino zu beobachten gibt.

Autor: Jan Distelmeyer

Dieser Text ist zuerst erschienen in: epd film 04/ 02