Schon im Mai vorigen Jahres, beim Internationalen Filmfestival in Cannes, wurde der deutsche Spielfilm „Unter dir die Stadt“ uraufgeführt. Der Film lief in einer der Nebenreihen und bekam großen Beifall von Publikum und Kritik. Jetzt, endlich, startet er in den deutschen Kinos.
Auf den ersten Blick wird eine banale Dreiecksgeschichte erzählt: Jung-Banker Oliver und Gattin Svenja ziehen in die deutsche Finanzmetropole Frankfurt am Main. Dort lernt sie den in Geldkreisen berühmten Roland kennen. Die Zwei fühlen sich heftig voneinander angezogen. Er, gerade zum Banker des Jahres gewählt, will seine Position nutzen, um den Ehemann ins Ausland abzuschieben, nach Asien. Aber – wie’s in Finanzgeschäften ist, so ist es erst recht in der Liebe: Nicht jede Rechnung geht auf.
Christoph Hochhäusler, der Autor und Regisseur, verweigert sich konsequent dem hierzulande üblichen quasselnden Erklärungskino voller Botschaft. Gefühle und Gedanken sind das A und O. Der Film ist eher Essay, denn Erzählung. Schon der Filmbeginn signalisiert: hier gibt’s keine Dialogflut voller leicht verdaulich verpackter Deutungshinweise: Svenja, die von Nicolette Krebitz mit schlafwandlerischer Zurückgenommenheit verkörperte Hauptfigur, entdeckt auf der Straße eine Fremde, die das gleiche Kleid trägt wie sie selbst. Sie folgt ihr eine kleine Weile, kauft in derselben Bäckerei – dasselbe. Und? Diese Frage muss jeder im Kinosaal für sich selbst beantworten.
Die offene, assoziative Erzählweise mutet in keiner Szene aufgesetzt oder beliebig an. Intensität der Inszenierung und des Schauspiels sorgen dafür. Das mal Sich-Treiben-Lassen der Figuren, mal harte Agieren zieht die Zuschauer mitten hinein ins Seelenleben der Protagonisten – und damit mitten in die Seelenlosigkeit der bürgerlichen Geschäftswelt. Devise: Was keinen Gewinn bringt, taugt nix. Viele Szenen gehen einem lange nicht aus dem Kopf, weil man immer weiter über mögliche Deutungen nachgrübelt. Da sind etwa die Momentaufnahmen von Rolands „Obsession“: Immer wieder lässt er sich von seinem Chauffeur Junkies zuführen, die sich vor seinen Augen einen Schuss setzen müssen, ihn dabei jedoch auf keinen Fall anblicken dürfen. – Was soll das? Lebt Roland so seinen Machthunger aus? Soll das zeigen, dass für Geld wirklich alles zu haben ist? Die Fragen muss jeder für sich selbst beantworten. Der Film lässt – wie hier – unentwegt viele Interpretationen zu.
Nicolette Krebitz und Mark Waschke als Paar, und Robert Hunger-Bühler im Part des Dritten, des big boss’, halten die Figuren weitab von leicht zugänglichen Deutungsmustern. Gut und Böse verschwimmen. Leichtes Urteil, gar Aburteilen, ist unmöglich. Das ist ungemein faszinierend.
Exzellent: der Film drückt sich nicht vor einer Bewertung der Machenschaften, die das Finanzgeschäft kennzeichnen. Aber auch hier: keine raschen Urteile, kein Schwarz-Weiß. Christoph Hochhäusler, das ist klar, pfeift auf die Erwartungshaltungen an das klassische Erzählkino. Die visuelle Gestaltung ist ihm offenkundig das Wichtigste. Aber nicht als Selbstzweck. Jedes Bild ist – mit vielen Deutungsmöglichkeiten – ein Verweis auf das Thema des Films: die Schwierigkeiten Einzelner, sich in einem Gesellschaftssystem, das aus kaltem Profitkalkül darauf aus ist, alle Eigenständigkeit der Individuen auszumerzen, zu behaupten.
Actionfans sitzen hier im falschen Film. Bestens bedient aber wird, wer sich im Kino gern zum Mitdenken herausfordern lässt, wer es mag, kunstvolle Zeichen zu entschlüsseln, und sich so auf Spurensuche in unserer Wirklichkeit zu begeben.

Peter Claus

Unter dir die Stadt, Christoph Hochhäusler (Deutschland, Frankreich 2010)

Bilder: Piffl Medien