Oh, diese Notizbücher

Mit „Nacht des Orakels“ gelangt Paul Auster zur Erfüllung und an die Grenzen seiner Methode

Das Buch gehört nicht nur dem Autor,
gehört auch dem Leser,

erst zusammen machen sie daraus,
was es ist.
Paul Auster

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Anti-Amerikanismus ist natürlich ein ideologisches Konstrukt. Eine politische Fiktion als strategische Unterstellung, die deswegen so perfide daher kommt, weil sie vage Assoziationen an den rassistisch begründeten Antisemitismus oder wenigstens an den „weltanschaulich“ begründeten Antikommunismus weckt. Meint das Opposition gegen eine bestimmte Politik (die US of A, und keineswegs Paraguay oder Chile betreffend), meint es die Geringschätzung des alten, irgendwie klüger gewordenen Europa gegenüber einer rotzigen neuen christlich fundamentierten Barbaren-Weltmacht, bei der einem schon die Folter von Gefangenen nicht mehr wundert, oder meint es gar die Vorbehalte gegen eine Lebensweise, eine Kultur, einen Code? Wie auch immer. Sollte jemand, nachdem er seine Michael Moore-Bücher zum zweiten Mal durchgelesen hat, die Zeitungen gelesen, die Bilder gesehen und George W. im Fernsehen geguckt haben, sich dennoch von einem kleinen Anfall von Anti-Amerikanismus ergriffen fühlen, gibt es dagegen ein probates Mittel: Literatur. Melville, Poe, Dos Passos, Salinger, Bellow, Roth um nur ein paar Namen zu nennen, auf die sich alle einigen können. Und Auster. Paul Auster.

Amerika ist eine gewaltige Erzählmaschine. Niemand kann hier so konventionell, bigott und rasenmäherisch sein, als dass nicht der ausgeflippte Nachbar noch die tollsten Geschichten über ihn wüsste, und niemand kann so mordsamerikanisch sein, dass nicht eine seiner Familiengeschichten nach Polen führt, oder sonst wohin im alten Europa, wie eine andere zu den Cherokee oder zu den Pilgervätern. Amerika lässt sich nur erzählen. Und Amerika erzählt vor allem seine Sünden. Sünden, die ihre Ursachen in alten Wunden suchen. In Paul Austers jüngstem Roman Oracle Night etwa findet der Schriftsteller Sidney Orr, über den Umweg einer Fiktion, ein Warschauer Telephonbuch aus den Jahren 1937/38 und darin die Nummer eines gewissen Ehepaares Janina und Stefan Orlovscy, in dem er seine leiblichen Vorfahren vermuten kann. Findet er Geschichte, erfindet oder erzählt er sie?

Auch Auster kann sich in Amerika nur erzählen. Nachfahr eingewanderter österreichischer Juden, Seemann (genau gesagt: Sechs Monate auf einem Esso-Öltanker), USA-Flüchtling, der zu Beginn der siebziger Jahre in Paris lebte, Übersetzer französischer Autoren (Blanchot, Mallarmé und Sartre unter anderem) und Herausgeber französischer Literatur, Lehrauftrag an der Columbia University, Brooklyn-Bewohner, verheiratet (in zweiter Ehe nach einem ersten Ehe-Desaster, das der Desaster-Ehe seiner Eltern glich) mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt und Vater zweier Kinder: Alles davon findet sich in seinen Büchern wieder, ist Material und Deckblatt für gepflegte Americana, so wie eine einfache (und wiederum nicht so einfache) Erkenntnis: „In dieser christlichsten aller Welten müssen alle Schriftsteller Juden sein“. Oder anders gesagt: Jeder, der in unseren Tagen ein Schriftsteller werden will, ist auf die eine oder andere Weise im Exil. Das meint die Außenseiterposition des Schriftstellers, sein mehr oder weniger ewiges Versuchen, die Welt zugleich zu beschreiben und ein Teil von ihr zu sein. Meint aber auch: Das Erzählen kann ein Teil der Welt sein, warum nicht, aber viel wahrscheinlicher ist die Welt ein Teil des Erzählens. Welche Welt?

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In Paul Austers frühen Arbeiten ist das literarische Experiment, der offene Diskurs der Methode, noch das, was uns zuerst ins Auge sticht. Man hat damals gern gesagt, Paul Auster sei ein „writer´s writer“, einer der unter den Literaten Begeisterung auslöst und beim Publikum eher geachtet als geliebt wird. Aber er ist schon bald auch ein Kult-Autor. Paul Auster als Markenzeichen funktioniert, weil es ihn auch im Pop-Diskurs gibt, weil seine Texte vielleicht subtil, aber niemals sperrig sind, mehr Sog als Sturm, im einzelnen Satz immer noch „Handlungsliteratur“.

Die New Yorker Trilogie etwa, die Paul Austers Ruhm begründete, umfasst dreimal eine ähnliche Geschichte aus einem schlichten Motiv. Ein Mann wird mit der Aufgabe betraut, einen anderen Mann zu beschatten, man könnte auch sagen, sein Schatten zu werden, und dabei verliert er sein eigenes Leben und nimmt ein anderes an. In City of Glass spaltet sich der Held: Er ist ein Schriftsteller namens Quinn, der nach einer Schaffenskrise die Identität eines Kriminalromanautors William Wilson (den „Doppelgänger“, den wir von Poe kennen) annimmt, der sich wiederum mit seiner Detektiv-Figur Max Works identifiziert (der einzige Roman-Titel, den wir erfahren, lautet Suicide Squeeze; der einzige Kriminalroman, den Auster schrieb in einer Phase, in der er an seiner ernsthaften Dichter-Karriere verzweifelte und sich als Gebrauchsliterat versuchen wollte, hieß Squeeze Play), aber eines Tages durch einen Anruf in die Rolle eines Detektivs namens Paul Auster schlüpft, um einen Mann vor den möglichen Nachstellungen eines verrückten Vaters zu beschützen, der ihn als Kind von Welt und Licht fernhielt, um aus ihm die Sprache Gottes zu hören. Alle Stadien der Fiktionalisierung der Realen und der Realisierung des Fiktionalen bekommen ihre Gestalt (und verlieren sie). Klingt kompliziert, kommt einem beim Lesen aber ungemein flüssig vor. Man kann das Ganze sehen als ein Spiel, durch das der Autor gezwungen werden soll, aus seinen Geschöpfen zu treten. Dieser Prozess hat aber schließlich das Verschwinden all dieser Figuren zur Folge, und zurück bleibt nur das Buch. Oder eben das „rote Notizbuch“, das der Erzähler findet, das Urbild all dieser Notizbücher, die in Austerland das Leben bestimmen.

Damit steckt der Auster-Poet in der Nachfolge von J.D.Salinger, der sich freilich radikaler, materieller dieser Gleichung von Leben und Schreiben entzog. Er verschwand einfach, erst als die menschliche Seite eines Autors, dann als die Autoren-Seite eines Menschen. Auster träumt vom Werden durch das Schreiben ebenso wie vom Verlöschen. Der Autor soll und will nicht verschwinden; deshalb wird er aus dem Zentrum des Textes vertrieben und kommt an allen Seiten davon wieder herein. Wir sehen dem Kampf zwischen dem Autor und dem Menschen zu, oder dem Leben und der Phantasie, oder dem Materiellen und der Einbildung.

Tatsächlich setzt sich schon hier in Austerland die Fiktionalisierung aus dem Scheitern zusammen; das Leben und das Schreiben scheitern sozusagen aneinander, aber der Text triumphiert. In Austerland leben Menschen, die sich selbst und sich gegenseitig erfinden, sie wollen die Rollen und Stellen von anderen einnehmen, sie wollen sich aber auch verbergen, sie wollen ihre Biografie auslöschen, wie der Filmer Hector Mann, der seine Werke mit seinem Tod vernichten lässt (oder ist es doch eher seine Frau, die das Werk dieser Vernichtung so konsequent vollführt?). „Ich ist ein anderer“ ist keine poetische Sensation für die Bewohner von Austerland, sondern alltägliche Realität.

Das Buch über allem in Austerland ist der Don Quixote des Cervantes. Es ist, sagt Auster, „darin jedes Problem, das ein Romanautor haben kann, und er löst es in der brillantesten und menschlichen Art, die man sich vorstellen kann“. Paul Austers Figuren sind allesamt Abspaltungen aus der Beziehung des Ritters von der traurigen Gestalt (eines radikalen Schriftstellers) und seines Dieners (eines pragmatischen Lügners). Es ist die Suche nach dem wahren Autor. Der heilige Autor, der physische, persönliche Träger der Identität, die Kreation der Rolle und der Chronist des kreativen Vorgangs sind voneinander geschieden, so wie der Autor in seinem Werk und der Autor außerhalb von ihm; sie verhalten sich zueinander, und sie tun es zugleich in einem trivialen und in einem literarischen Universum. Denn nicht der reine Autor, wohl aber alle seine Abspaltungen maskieren sich beständig mit Namen und Rollen aus der Literatur. Und nun können wir entspannter mit der Vorstellung eines „writer´s writer“ umgehen. Paul Auster schreibt über Literatur, gewiss doch, aber mehr noch schreibt er über Phantasie. Darüber, wie sie uns rettet, wie sie uns gefährdet, wie sie erschafft und wie sie zerstört. Er schreibt über den Zusammenhang von Erleben, Wahrnehmen und Erfinden, jeder kann das nachempfinden, und die vielen literarischen Anspielungen mögen dazu nützlich sein, das Wesentliche sind sie nicht. Paul Auster ist ein raffinierter Schriftsteller, der es auf Einfachkeit abgesehen hat.

Brillant und menschlich werden, darauf kommt es an. Vorläufig befinden wir uns in der Phase der Brillanz. In den achtziger Jahren entstehen eher reduzierte Romane, etwa die Endzeitstudie von Im Land der letzten Dinge, die auf eine Arbeit in der ersten Zeit zurückgeht (eine „Jugendarbeit“ sozusagen, die 1970 begonnen und erst 1985 vollendet wurde), und auch Mond über Manhattan ist eine der Arbeiten, die Paul Auster in seinen späten Zwanzigern schrieb und erst später veröffentlichen konnte, nachdem er sie auf die Seite gelegt hatte, es sind Geschichten vom low life, von einer Apokalypse, in die jemand gerät, der zu neugierig, zu träge oder auch zu poetisch lebt, und auch diese Variation des Schriftstellers als Ausgestoßener ist direkt auf biografisches Material bezogen. In der Mitte seiner Arbeit steckt eine Selbstrevision: Auster Nr. 2 schreibt zuende, woran Auster Nr. 1 gescheitert ist. In den späten siebziger Jahren steckte er in einer ernsthaften Krise (Auster weiß, wovon er schreibt, wenn es um das armselige Leben von Schriftstellern geht). In dieser Zeit veröffentlicht er tatsächlich eine Detektivgeschichte unter Pseudonym, um sich Geld zum Leben zu verdienen, und erst 1978 fand er noch einmal den Mut, „richtig“ zu schreiben zu beginnen. Paul Auster hat einmal „absolutely stopped“ und noch einmal absolut neu angefangen. Dass es zwei Schriftstellerleben des Paul Auster gibt, eine in jeder Hinsicht elende und eine erfolgreiche, die vielleicht durch mehr als eine jahrelange Pause voneinander getrennt sind, das hat nicht nur sein Material in einer Schriftsteller-Biografie, sondern auch in der Geschichte der Literatur: der moderne Dichter Paul Auster ist elend gescheitert. Der postmoderne Dichter Paul Auster triumphiert bis in Leserkreise hinein, die sich ansonsten ungern mit schwerer Kost belasten. Das Thema des postmodernen Dichters Paul Auster ist das Scheitern des modernen Schriftstellers Paul Auster. Es gibt nicht den armen Poeten, der schließlich zum Wunderkind und Erfolgschriftsteller wird, es gibt zwei Lebensentwürfe des Künstlers. Beide unzweifelhaft wirklich, und doch auch so, als könnte eines nur vom anderen erfunden sein, eines Traum oder Alptraum im anderen. Zwischen beidem stecken die Katastrophen, die es in beinahe allen Auster-Romanen gibt: der Verlust der Familie, der Tod eines geliebten Menschen, das Verschwinden sozialer Gewissheiten, seelische und körperliche Krankheiten des Subjekts, kurzum: das Leiden. Das Leiden spaltet die Fiktionen, es ist der Abgrund, vor dem die Phantasie Flügel bekommt. Oder auch nicht.

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„Ich war lange Zeit krank gewesen“, so beginnt auch Nacht des Orakels. Mit einer Art Wiedergeburt oder einem Neuanfang. Oder mit der Illusion davon. Die Hauptgeschichte, wenn man das schon so nennen kann, ist die des Schriftstellers Sidney Orr, der nach einem Unfall und körperlichen und seelischen Krisen langsam wieder ins Leben zurückfindet. Er unternimmt Spaziergänge durch die Stadt, schluckt Pillen, beginnt seine Frau, seine Umwelt, seine Finanzen wieder mit einer Mischung aus Verwunderung und Ermüdung wahrzunehmen, und gelangt schließlich an das offensichtlich neu eröffnete Schreibwarengeschäft des chinesischen Einwanderers M.R. Chang in der Cobble Hill-Gegend von Brooklyn, das großspurig „Paper Palace“ benannt ist. Dort erwirbt er ein blaues Notizbuch (oh, diese Notizbücher in Austerland!) aus Portugal, und mit diesem beginnt er wieder zu schreiben. Es wirkt sich nachgerade magisch auf seine Fähigkeiten aus, er bekommt einen regelrechten Schreib-Anfall und beginnt eine Geschichte um Nick Bowen zu skizzieren, einen Nachfahr von Dashiell Hammets hard boiled heroes und mit der Variation der berühmten Szene aus The Maltese Falcon.

Bowen, Lektor von Beruf, entkommt, nachdem er gerade dem Tod durch eine herunterfallenden Balken entronnen war, (wie Orr natürlich), seiner kaputten Ehe und trostlosem Berufsleben in einer ziellosen Flucht von New York nach Kansas City, wo er sich mit einem schwarzen Taxifahrer anfreundet, der gerade seine letzte Fahrt hinter sich bringt und in der heruntergekommensten Gegend der Stadt ein sehr eigenartiges Archiv für Geschichtspflege führt, das ausschließlich aus Telefonbüchern besteht. Nick, der ein neues Leben beginnt wie Hector Mann, bekommt seinen Job als sein Helfer; aber sein Freund und Arbeitgeber erleidet einen Anfall und lässt ihn allein. Fatalerweise sperrt er sich durch unglückliche Umstände selber im Keller ein, und wir warten auf seine Befreiung. Aber dem Autor, der ihn in diese missliche Lage, in etwas wie einen Bombenkeller im Ghetto von Kansas City gebracht hatte, genauer gesagt; dem Autor, der Nick Bowen als Dashiell-Hammett-Variation in diese Situation gebracht hat, fällt dann plötzlich nichts mehr ein. Er lässt seine Schöpfung im Stich wie ein selbstsüchtiger, larmoyanter Gott. Das blaue Notizbuch entwickelt sich so zur Falle für seine Schöpfung. Denn es ist vollgeschrieben, und es gibt kein neues. Auster-Kenner wissen natürlich, warum es nur von einem Chinesen verkauft und nur aus Portugal stammen konnte, und es musste in der Farbe „blau“ erscheinen – Sidney Orr akzeptiert keine andere Farbe; das „rote“ Notizbuch des Paul Auster ist ein direktes Gegenbild, dass es seit seinem Beginn gibt, in den Texten und sogar als Text. Das blaue Notizbuch also ist ein Gegenstück, die Übermalung, die Negation des roten Notizbuches. So wie das blaue Buch Nacht des Orakels Fortsetzung und Gegenstück zu dem roten Buch der Illusionen ist. Wie Tag und Nacht, Leben und Tod. Es wird also auf Teufel komm raus erzählt in Paul Austers neuem Roman, beinahe so, als könnte man die Erzählsucht nicht mehr kontrollieren. Aber das täuscht. Denn vor allem handelt Nacht des Orakels vom Nicht-weiter-erzählen-Können.

In gewisser Weise ist Nacht des Orakels Fortsetzung und Variation von Das Buch der Illusionen. Wieder geht es um einen literarischen Menschen in der Krise. Aber das Ende ist nicht nur eine Tragödie, es entlarvt stärker als gewohnt die ganze „tricky“ Konstruktion als Abwehrmaßnahme dagegen und als Annäherungsmittel, sich mit sehr fundamentalen Entscheidungen, die Liebe, die Schuld, die Vergebung betreffend, auseinander zu setzen. Jedesmal, wenn eine der Figuren in Oracle Night an einem Menschen, an einem Objekt oder an einem Ort Halt oder Heimat findet, dann verschwindet das. Vielleicht beschreibt Nacht des Orakels nichts anderes als das Ende der Postmoderne. Spalte dich so viel du willst, erzähle das Blaue vom Himmel, du wirst nicht entkommen.

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Paul Auster ist ein Artist, der seine schönsten Tricks verbirgt, indem er sie gerade zu erklären scheint. Die Methode ist auf eine beschämende Weise durchsichtig, auf den ersten Blick. Es gibt eine Anzahl von Motiven, die immer und immer wieder aufscheinen, das Notizbuch, die sprechenden oder reduzierten Namen, die Suche nach dem Verschwundenen, das Hineinfallen in eine fremde oder eine fiktive Biografie, den wundersamen Kerl, der sein Geld verschenkt, das verbrannte Manuskript, es gibt eine immer wieder aufscheinende Mythologie der Krise, und es gibt die Kunst, das alles immer wieder neu zu montieren. Die erste Gefahr in Austerland ist die schiere Virtuosität selber. Als müsste der Autor die Tragödien seiner Subjekte immer schrecklicher gestalten, damit der Text sich nicht an sich selbst entzünden würde. Die zweite Gefahr ist eine Religion des Zufälligen, jene Besessenheit von verrückten Zusammentreffen, von denen Auster so viele in sein amerikanisches Kurzgeschichten-Projekt aufgenommen hat, durch das er ganz gewöhnlichen Menschen ein „nationales“ Forum für ihre kleinen Erzählungen gab. Und auch Austerland ist nicht frei von semantischer Bigotterie. Alle Tricks, die Paul Auster anwendet, führen dazu, noch einmal und noch einmal zum Erzählen zurückzufinden, ohne zu verleugnen, dass es das Ende gibt. Paul Auster kann erzählen, dass es einem schwindlig wird und dass man, obwohl sie doch so kompliziert und so voller literarischer Verweise stecken, seine Texte – oder wenigstens die Sprache der Literatur – als etwas „heiliges“ empfindet.

Ob Austerland die (amerikanische) Hölle ist, vermag ich nicht zu sagen. Sie ist es wohl nicht im Sinne von Dante, der seinen Guido da Montefeltro sagen lässt: „…weil niemals aus dem tiefen Grunde/Ein Wesen, hör ich richtig, lebend heimgekehrt,/Kann ich dir ohne Schande Antwort geben.“ Wir verstehen: Wenn die Hölle ein geschlossener Ort ist, so kann man hier schamlos sein, keine Nachricht dringt in ein außen, wenn es noch eines gibt. Beides aber gilt nicht für Paul Austers Helden; nicht einmal im Land der letzten Dinge hat man die Hoffnung auf eine Außenwelt aufgegeben, und hier hört man nicht auf, sich zu verstellen und einander zu täuschen. Es ist die Hölle aber auch nicht im Sartreschen Sinne: die anderen sind viel zu fremd, um einem schon höllisch genug zu sein. Wenn, dann ist es die Babylonische Hölle von Nacht des Orakels: Erzählen müssen, seinen Figuren und Ereignissen folgen, im Wissen, dass nichts mehr daraus werden wird. Wie alle großen amerikanischen Autoren beschreibt auch Paul Auster, wie Amerika nicht zur Heimat geworden ist. Es lässt sich nicht einmal mehr richtig erzählen. Es ist eine durch Wunder perforierte Sprachhölle. Oder verträumter Alltag. Ein schönes Elend. Voller Menschen, die das Recht auf ihre Erzählung haben. Denn was man erzählen kann und was nicht, das ist nicht nur eine Frage von Technik und Geschichte, es ist auch eine Frage von Macht und Widerstand. Deshalb lohnt sich so ein Kampf ums Erzählen. Und deshalb ist man in Austerland auch noch nicht ganz verloren.

Paul Auster: Nacht des Orakels. Roman.
Deutsch von Werner Schmitz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2004, 285 S.

Autor:  Georg Seesslen