MALEREI DER TRAUER

Zu den Edvard-Munch-Ausstellungen in Stockholm und Kopenhagen

Christiana muss ein merkwürdiger Ort gewesen sein. Diese kleine Stadt in Norwegen unterschied sich in wenigem von anderen kleinen Städten zu jener Zeit, als sich auch dieses Land von einer ständischen Gesellschaft der Bauern und Fischer mit einer schmalen bürgerlichen Oberschicht in eine industrielle Klassengesellschaft verwandelte. Nur dass sie die Hauptstadt war (die man 1925 in Oslo umbenannte). Ziemlich plötzlich erlebte sie, wenn auch nur für kurze Zeit, einen politischen und ästhetischen Aufruhr, den man sonst nur in den europäischen Metropolen vermutet. Dorthin kam die Familie Munch 1864. Der Vater war Militärarzt und Seereisender; die Mutter, lungenleidend, starb, als Edvard Munch gerade fünf Jahre alt war. Die Familie erholte sich nicht von diesem Verlust. Eine bürgerliche Familie, die die Umwandlung der eigenen Klasse als persönliche Passion erlebte. Freudloses Leben in einem freudlosen Stadtteil mit dem hohnvollen Namen Grünerlokken.

Die Krankheit ist in der Familie, die ältere Schwester stirbt, die anderen kämpfen gegen das seelische und körperliche Verlöschen. Nicht einmal der regelmäßige Schulbesuch ist möglich. Der junge Edvard Munch malte, malte den Tod und die Toten, malte, was später immer wieder in seinen Bildern aufscheinen wird, das Totenzimmer, das sterbende Mädchen, die kalte Sonne über dem gespenstischen Reigen, den Mond über dem Meer, der wie der Punkt über einem auf das Wasser gemalten „i“ wirkt.

Die Krankheits- und Todeserfahrungen in der Familie Munch in Christiana waren Metapher genug für das Ende des Jahrhunderts. Die bürgerliche Klasse stieß einen Teil aus sich heraus. Man gab ihm den tödlichen Namen „Kleinbürger“, und dieser Stand war begabt und elend nach allen Seiten; die erste Erfahrung seiner Mitglieder war die Entwurzelung. Aus der Mitte dieses Kleinbürgertums entstand etwas, was diese Klasse selber nie anders behandeln konnte denn als den eingeschriebenen Wahnsinn seiner Existenz: die Philosophie des Subjekts als ästhetische Erfahrung. Die enteignete und uneigentliche Klasse brachte eine Kunst hervor, die in der Ersten Person Einzahl geschrieben war, und die sich in ihrem verzweifelten Suchen nach einem sozialen Ort und nach den Fluchtmöglichkeiten über kein Woher und kein Wohin im Klaren sein konnte. Ihre einzige Hoffnung war die Selbsterlösung, und für die stand „das Moderne“. So wurde die moderne Kunst das schöne Andere im Elend der neuen Klasse der Kleinbürger.

Über einhundert Jahre brachte diese Klasse der Kleinbürger ihre elenden Genies hervor, die von nichts anderem sprechen konnten, als von den Verlusten: der Transzendenz, der Tradition, der Gewissheit und, am Ende, vom Verlust jeder anderen Identität als der der Kunst. Und mit dem selben Eifer, mit dem diese Kleinbürger ihre elenden Philosophen und Künstler hervorbrachte, trachteten sie ihnen auch nach dem Leben. Vieles wurde gegen sie ins Feld geführt, am Ende auch der Faschismus, der nicht nur die „entartete Kunst“ vernichtete, sondern auch die Juden umbrachte, in denen man, neben vielem anderen, auch eine aberwitzige Verschwörung der Subjektphilosophen sehen konnte.

Aber bis dahin ließ sich das Projekt der Moderne in der Wahrnehmung, die Idee des empfindenden Ich in seinen Abfolgen von unbändiger Freude über diese Selbstwahrnehmung und Verzweiflung über die Einsamkeit, die damit verbunden ist, nicht vollends unterdrücken. Es war nicht das Abstrakte, Autonome, Revoltierende der modernen Kunst an sich, was das Kleinbürgerlager in zwei Teile spaltete, es war der radikale Anspruch des ästhetischen Ich. Diese Kunst konnte von nichts anderem handeln als von den Versprechungen der Freiheit und von den Verlusten an Geborgenheit. Auch Edvard Munchs Arbeiten sind nur in der Gleichzeitigkeit zu verstehen: als Beschreibung der Leiden und Verluste (im metaphorischen, psychoanalytischen und biographischen Sinn) und als Verlangen nach Befreiung.

Seine größte Kunst war es, zu überleben: die todkranke Familie, die bigotte Gesellschaft und die selbstzerstörerische Bohème, Verfehlung in der Liebe, immer wieder körperliche und seelische Krisen, ein Alter, über dem die Drohung der vollständigen Erblindung lag. Ein exemplarisches Künstlerleben im Zeitalter des Kleinbürgertums.

Schon in seinen frühen Arbeiten zeigt sich in seiner Malerei der Verzicht auf alles Genrehafte, auf den Versuch, es sich, malend, heimisch zu machen in einem wirklichen oder geträumten Milieu. 1889 notiert Munch in seinem Tagebuch, was man als ein Programm auffassen mag: „Es sollen nicht mehr Interieurs mit lesenden Männern und strickenden Frauen gemalt werden. Es müssen lebende Menschen sein, die atmen, fühlen, leiden und lieben. Ich werde eine Reihe solcher Bilder malen: Man soll das Heilige dabei verstehen, und die Leute sollen den Hut davor abnehmen wie in einer Kirche.“ Das also war nicht nur eine Absage an jenen Impressionismus, der die Leichtigkeit des Augenblicks herbeizauberte, es drückte dieses Projekt der Moderne, die Selbstheiligung des Menschen durch die Kunst aus. „Ich male“, erklärte Munch, „nicht was ich sehe, ich male, was ich sah“. Malen „was man sah“ ist, jedenfalls in Munchs Arbeiten, immer auch eine Malerei der Trauer.

Wie also bewegte sich Munch zu dem, was er sah? In seinem Bild Das kranke Mädchen überschreitet er das, was sich malerisch in seiner Zeit tat. Motive wie dieses Sterben in der Familie waren gang und gäbe, sie entsprachen übermächtiger sozialer Realität. Aber während etwa Christian Krohg in einem fast gleichen Bild vor allem das soziale Milieu sieht, ein Mitleid von außen erzeugt, zeigt Munch den inneren Prozess. Es geht um diesen Tod und darum, dass er auf eine unvergleichliche Weise vom Subjekt empfunden und aus der Erinnerung nicht mehr getilgt wird. Das Bild zeigt nicht Schmerz, es ist Schmerz. Munch zeigt nur selten den personalisierten Tod, das Sterben, er zeigt dagegen vor allem und immer wieder den Schmerz und die Ratlosigkeit, die das Sterben bei den anderen hinterlässt. Bei den Überlebenden.

Christiana, wie gesagt, muss damals eine seltsame Stadt gewesen sein. Eine „sibirische Stadt“, wie Munch selbst sie rückblickend beschrieb, die ihre „russische Periode“ erlebte. Will heißen: eine Periode von Revolte, Bohème und wildem philosophischen Streit. Christian Krohg wurde schon für seine (dem melodramatischen nicht ganz fremde) „Arme-Leute-Malerei“ heftig angegriffen, da er sich nicht scheute, ausgebeutete Arbeiter ebenso wie Prostituierte auf der Straße in einem Bild zu zeigen. Hans Jaeger, wohl das intellektuelle Zentrum der Christiana-Bohème (Munch porträtierte ihn 1889), zog als linker Rationalist und Kritiker der bürgerlichen Moral den meisten Hass auf sich. Sein Buch Christiana Bohème wurde polizeilich konfisziert, nicht zuletzt, weil er für eine Solidarisierung der Künstler mit der Arbeiterbewegung plädierte und die moralisch-gesellschaftlichen Ziele jeder Revolte formulierte: die Abschaffung der Repression in der Schule und der Familie, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, den Kampf gegen die „Götzen“ Christentum, Moral und Recht, Kampf dem Kapital und der ausbeuterischen Besitzbürger.

Munch war Teil dieser Befreiung und wurde doch stets eingeholt von seiner Familie. Als er das Bild Die Pubertät in einer Ausstellung zeigte, ein ebenso direktes, raues wie zärtliches Bildnis eines nackten Mädchens, verdeckte er es, als sein Vater die Ausstellung besuchte, mit einem Tuch, um ihn nicht zu schockieren. Allein dreißig Maler gehörten der Bewegung der Christiana Bohème an, die meisten von ihnen malten, was sie sahen: den sozialen Aufruhr, menschliches Elend, die Entstehung neuer Kulturen und neuer Milieus. Sehr viele von ihnen starben sehr früh. Während er sehr früh und immer wieder den Tod in der Familie malte, fand Munch erst 1926 zum Tod des Bohemien (und wie sich doch die Bilder ähneln).

Christiana hasste Munch, und Munch hasste Christiana.1892 wurde Munch vom Verein Berliner Künstler zu einer Ausstellung eingeladen, und er schien glücklich zu entkommen. Aber nicht in die Welt, sondern nur in neue provinzielle Finsternis geriet er. Die Ausstellung wurde gleich nach der Eröffnung wieder geschlossen; die Berliner Kritiker hatten die 55 Gemälde als „Schmierereien“ bezeichnet, und der Vorsitzende des Vereins, Anton von Werner, ein Günstling des Kaisers, entrüstete sich über die „Schande für die Kunst“. Zum zweiten mal entfachten Munchs Bilder einen Stellvertreterkrieg: In Christiana hatte man seine Bilder geschmäht, um den Anarchismus der Bohème zu treffen, nun war ganz allgemein das Neue, das Fremde, das Unbürgerliche und Staatsferne gemeint, das das kaiserliche Berlin in Aufruhr versetzte. Die Unterwerfung des Vereins unter das Diktat der reaktionären Kunstwarte allerdings war für die jungen Mitglieder Anlass, sich von ihm zu trennen. Der „Fall Munch“ stand am Beginn der Berliner Sezession, und Munch blieb bis 1895 in der Stadt, in der er auf so skandalöse wie vergnügliche Weise hochberühmt geworden war.

Hier entstanden die ersten Arbeiten seines umfangreichen graphischen Werks. Und hier wurde der Zyklus des Lebensfries fortgesetzt mit Bildern wie Fieber, Tod, Am Totenbett, Sturm. Was folgte, war Aufbruch und Rückkehr zugleich: Munch verbrachte die kommenden Jahre den Sommer in seiner norwegischen Heimat, den Winter über reiste er, nach Paris (wo 1897 Mutter und Tochter entsteht), nach Nizza, in die Schweiz, nach Italien. Das Elend der doppelten Fremde freilich blieb ihm auch weiter nicht erspart: Bei der ersten Ausstellung der Berliner Sezession wurde der „Ausländer“ Munch nicht eingeladen. Erst 1902 gelang es ihm, 77 Bilder des Lebensfries-Zyklus auszustellen, was wohl seinen Durchbruch in Deutschland bedeutete. Der Fries ist gedacht als eine Art Seelenpanorama, eine Meta-Bild mit einer Meta-Topographie darin.

In diesen Jahren entstehen in seiner Zeit in Asgardstrand einige der berühmtesten Bilder wie Der Tanz des Lebens, Der Tod der Mutter, Das Weib in drei Stadien, Melancholie und Mädchen auf der Brücke. Während Munch nun zu internationalem Ruhm gelangt – unter anderem durch einer erste Retrospektive in Prag – und in seiner norwegischen Heimat nach wie vor verfemt bleibt, häufen sich die inneren Krisen. Er kämpft dagegen an, weiter die inneren Dämonen der Erinnerung, die Seelengeschichte zu bearbeiten. Hier und dort gelingt es dem Menschen Munch, sich auf Kosten des Künstlers zu retten. Zwei Anläufe, ein Porträt des von ihm so hoch geschätzten Philosophen Friedrich Nietzsche zu schaffen, scheitern – vielleicht nicht nur, weil dem Maler die persönliche Begegnung fehlt und er nach einer Fotografie arbeiten soll (wie um den Tod zu verdoppeln), sondern wohl auch, weil Munch mit den Konsequenzen der Subjektphilosophie nicht zurecht kommen wird.

Diese Krise mag gewiss auch mit jenem denkwürdigen Umschlag der Idee von Gleichberechtigung aus der Bohème in gelegentlich paranoide Misogynie und die Angst vor der verderbenden Frau zu tun haben, die viele Zeitgenossen und Freunde, insbesondere natürlich August Strindberg, den Freund-Feind Munchs, gepackt hatte. Auch in Munchs Arbeiten gibt es Motive, die der Mythologie der Frauenangst des neunzehnten Jahrhunderts verwandt scheinen: in den Gemälden Der Tod des Marat, Vampir oder Asche oder in Grafiken wie Das Mädchen und das Herz oder Unter dem Joch. Aber Munch hat sich stets auch wieder davon befreit, hat die Trauer um die verlorene Liebe als bewusste Abwendung zweier Menschen dargestellt wie in Zwei Menschen oder Loslösung. In Munchs Bildern ist die Frau, anders als in den Bildern der Symbolisten, anders als in den panischen Subjektphilosophien, nicht die Ursache des Leidens, sondern eine Leidende wie der Mann. Das Wesen, das sich nach der Verschmelzung sehnt und unter der Trennung leidet. Im Tanz des Lebens sehen wir links das „blühende“ Mädchen, in erwartendem Lächeln, dazwischen Paare und Beziehungen, Begierde, Entsagung, Konvention, Lust, am rechten Bildrand die trauernde, einsame Frau. Kaum ein Bild hat je so präzis die Tragödie der Liebe beschrieben. Tatsächlich gibt es in Munchs Welt die zwei Zustände, die Verschmelzung im Begehren und die Verzweiflung der Einsamkeit danach, als wahrhaft fundamentale Erfahrungen. Auch dies ist wohl nur einerseits biographisches Element zwischen Familie und Bohème; es ist, wie der gesamte Lebensfries, auch Teil einer Psychographie seiner Zeit. Sexualität und Körperlichkeit gehören zum Empfinden des Menschen, der sich als Subjekt zu begreifen beginnt, aber zur gleichen Zeit fehlt ein gesellschaftliches Projekt für diese Empfindung. „Gesellschaft“ besteht in Munchs Bildern nur aus voneinander isolierten Personen in wechselnden Zuständen von Begierde, Isolation und Verzweiflung.

Nach einer weiteren, der größten Lebenskrise, überstanden im Sanatorium zu Oslo und in der Rekonvaleszenz in Kragero, verändern sich Farbe und Motive bei Munch. Er sucht die Natur nicht mehr im Seelenlärm von Liebe und Tod. Nur sehr sporadisch tauchen die alten Motive noch einmal auf, Stattdessen malt er Schneeschaufler oder Straßenarbeiter, und die politischen Ideen werden einfacher und klarer: „Die Zeit der Arbeiter ist gekommen“, schreibt er 1929, und fragt: „Kann die Kunst nicht wieder das Eigentum aller werden?“ Die Farben verlieren das Giftige und Schmerzhafte. Und ein neuer Fries beginnt, die Apotheose der Arbeit, mit Bildern wie Der Holzfäller, Erdarbeiter oder Die Heimkehr der Arbeiter. Das geniale, elende kleinbürgerliche Subjekt sucht Heil und Trost in einer neuen Klasse, die so würdevoll den Bruch zwischen sich und der Welt durch die Arbeit überwinden zu können scheint.

Neben den großen Zyklen, dem Lebensfries, den Munch so gerne in einem eigens errichteten Raum ausgestellt gesehen hätte, dem Fries der Universität und dem Zyklus der Arbeit, beschäftigte sich Munch durchgehend auch mit dem Porträt. Es sind Porträts von Kunstsammlern, Dichtern, Familienangehörigen, Politikern, die das Autonome des Subjekts betonen, und die – in der Regel ganz buchstäblich – mit dem Betrachter auf gleicher Höhe stehen. (Und obwohl es in diesen Porträts kein bisschen bösartig-karikierend zugeht, hieß es doch, dass niemand zufrieden war mit dem Bild, das Munch von ihm gefertigt hatte. Die anderen, ja, die waren durchweg gut getroffen …) Munchs Blick lässt dem Porträtierten auch nicht die Maske der bürgerlichen Macht. Es ist etwas zutiefst Ziviles und Demokratisches in seiner Porträtkunst. Als er, schon hochbetagt, den ehrenvollen Auftrag erhielt, ein Mitglied der königlichen Familie zu malen, lehnte er ab: „Ich bin zu alt, um zu lernen, wie man Orden malt.“

Während der Naturalismus und in gewisser Weise auch der Impressionismus den Menschen als Ausdruck und Ergebnis seiner Umwelt wiedergibt, geht Munch den gerade entgegengesetzten Weg und zeigt die Kluft zwischen dem Menschen und seiner Welt. Das erreicht er durch zunächst recht einfache Kompositionsprinzipien: Er isoliert die menschliche Gestalt im Vordergrund und errichtet stattdessen im Hintergrund eine Welt, die dem Seelenzustand dieses Menschen entspricht. Zueinander wie zu ihrer Welt verhalten sich die Menschen also in Form von Maske und Spiegelung. Aber die Spiegelung der Innenwelt in der Welt der Natur und der Welt der Dinge gibt keine Einheit mehr, im Gegenteil, sie erhöht den Ausdruck der Isolation.

Munch trennt sich vollkommen von jenem allegorischen Gehalt der symbolistischen Darstellung, die stets einen Umweg über den allgemeinen Code (der Bibel, der Legende, der Literatur) nimmt, aber auch von jener unbestimmten Allegorie, die der Erzählung im Bild das Geheimnis lassen will. Sein Ausgangspunkt der mythischen Konstruktion ist beinahe stets der autobiographische Bezug (und er ist dabei radikal, bisweilen rücksichtslos). Man mag also Munch als „Mystiker“ bezeichnen, ebenso aber auch als einen Psychohistoriker, der nicht den unwiederbringlichen Augenblick, sondern das Einzigartige im historischen Ablauf wiedergibt, das, „was ich sah“ und was uns begleitet.

Und dann gibt es da dieses Schlüsselbild, das noch in seiner trivialisiertesten Form so heftig berührt. Der Schrei ist der Augenblick, in der das Subjekthafte des Menschen in der Natur seiner selbst gewahr wird. August Strindberg schrieb über das Bild: „Schrei des Entsetzens vor der Natur, die vor Zorn errötet und sich anschickt, durch Sturm und Donner zu den törichten kleinen Wesen zu sprechen, die sich einbilden, Götter zu sein, ohne ihnen zu gleichen“. Anders gesagt: Der Schrei dokumentiert den radikalsten Augenblick des Subjektes, die Vollendung und zugleich die Unmöglichkeit des Kleinbürgers zur Selbsterlösung.

Das Wuchtige ist das Wesentliche in Munchs Bildern; viele, auch die wohlmeinenderen Kritiker haben ihm das „Unfertige“ seiner Bilder, den Verzicht auf ein „Finish“ vorgeworfen. Aber gerade darin zeigt sich auch die Reduktion auf das Wesentliche, Munchs Farbauftrag endet nicht am Rahmen, sondern einfach da auf, wo er aufhören muss. Seine Bilder sind zu ihrer Umgebung daher offen. Das Subjekt atmet die Welt ein, und verliert die Grenzen zu ihr. Was anderes bleibt ihm als zu schreien?

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in Freitag, 16.3.2001