Von Poona nach London

Improvisation: In seinem jüngsten Werk „Mein Ohr an deinem Herzen“ entfaltet der britische Schriftsteller Hanif Kureishi die Geschichte seiner indisch-pakistanisch-britischen Familie und erfüllt seinem Vater posthum den größten Wunsch

Peter Brook fragt Hanif Kureishi einmal nach Indien. Auf der Suche nach hinduistischer Mythologie und Symbolik für sein Großprojekt „Mahabharata“ wendet sich der britische Filmemacher damit allerdings mit dem britischen Regisseur indisch-pakistanischer Abstammung an jemanden, in dessen Kopf sich „ein Mischmasch aus britischen Sitcoms, zeitgenössischer amerikanischer Literatur und Popmusik“ befindet und für dessen Vater es selbst nur britische und amerikanische Kultur gab. So war Kureishi in Brooks Augen ein „gescheiterter Inder“, gar eine Fälschung.

Kureishi schließt diese Anekdote in seinem jüngsten Buch „Mein Ohr an deinem Herzen“ mit der Beobachtung ab: „Brooks Interesse galt dem Asiaten als kulturellem Phänomen, nicht dem Immigranten, der sich Kultur und Sexualität verkneifen muss, um in der neuen Heimat Fuß fassen zu können. Seine Kinder oder Enkel dürfen sich dann nach Herzenslust amüsieren – falls sie zu Ehren der von ihren Vätern gebrachten Opfer keine Fundamentalisten werden.“

Als Angehöriger der zweiten Generation von Migranten in Großbritannien war diese Episode bei Kureishis Erlebnissen mit Rassismus wahrscheinlich noch die harmlosere Variante. In seinen berühmt gewordenen, semiautobiografischen Drehbüchern und Romanen wie in „Mein wunderbarer Waschsalon“ (1985), „Der Buddha aus der Vorstadt“(1990) oder in „Das schwarze Album“ (1995) hat der 57-jährige Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur derlei Erfahrungen reichlich verarbeitet. In seinen letzten Werken wie „Rastlose Nähe“ oder „Gabriels Gabe“ wendet er sich seither vollends den persönlichen Themen zu.

Wie der Untertitel „Erinnerungen an meinen Vater“ seines neuesten Werks andeutet, geht es in „Mein Ohr an deinem Herzen“ um das Familiäre und damit um das eigene Ich, das unablässig mit der Selbstanalyse beschäftigt zu sein scheint. Kureishi stellt in dem Buch, das weder er selbst noch der Leser recht zu kategorisieren weiß, Fragen, die man sich in der Mitte des Lebens eben stellt. Das mit freimütigen Schilderungen seiner Psychotherapie gespickte längere Essay, das sich laut Kureishi schließlich „zu einer Art Improvisation entwickelte“, ist dennoch keine öde Midlife-Crisis-Jammerei geworden.

Kureishi springt zwischen den Zeitebenen hin und her: Er erzählt mal Begegnungen mit Schriftstellerkollegen wie V.S. Naipul und Philip Roth dann über seine Punk-Jugend, eine Pakistan-Reise und breitet seine Ansichten über die derzeitige Migrationsgesellschaft, Depression, Tschechow und Freud aus. Das alles ist satirisch und ernst, emotional und inspirierend zugleich. Kureishi leitet seine philosophischen Ausschweifungen jedoch stets von der Biographie seines Vaters Shannoo ab, die den Haupterzählstrang des Buches bildet. Wobei es nicht ganz deutlich wird, ob er auch in diesem Bemühen im Grunde doch sich selbst sucht. Oder ob das Vater-Sohn-Verhältnis neu inspiziert werden muss.

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satirisch und ernst, emotional

und inspirierend zugleich

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„Mein Ohr an deinem Herzen“ beginnt Kureishi mit dem Hinweis, dass er ursprünglich ein Buch über die sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts geplant hatte. Dort wollte er seine Empfindungen beim nochmaligen Lesen von Büchern beschreiben, die er in seiner Jugend gerne gelesen hatte: Kerouac, Dostojewski, Oscar Wilde oder Salinger. Doch dann tauchte plötzlich ein Ordner seines elf Jahre zuvor verstorbenen Vaters auf und er fühlte sich gezwungen, sein Konzept zu ändern.

Traumatisiert von der Tatsache, dass die Manuskripte seines Vaters zu dessen Lebzeiten von Londoner Verlagen immerfort beharrlich abgelehnt worden waren, saß ihm der autobiografische Roman mit dem Titel „An Indian Adolescence“, der sich in diesem Ordner befand, im Nacken. Kureishi hatte nämlich bereits mit sechzehn Jahren aufgehört, die Romane seines Vaters zu lesen. Umgekehrt hatte er dessen Kritik in Bezug auf seine eigenen Bücher immer als unerträglich empfunden.

Der Leser rechnet bei dieser Konstellation mit einer komplexen Vater-Sohn-Beziehung, in der der vom Literaturbetrieb nicht beachtete Vater auf die Veröffentlichungen seines Sohnes neidisch wurde und der Sohn wiederum die stets unfertig wirkenden Manuskripte seines Vaters geringschätzte. Dem ist aber keineswegs so. Kureishi gelingt es nämlich, Sympathie für die unveröffentlichten Texte Shannoos zu erwecken, der sein Leben lang ein Schriftstellerdasein erträumte. Dies erachtete er als das höchste Glück im Leben.

„An Indian Adolescence“ ist die Biografie eines literaturvernarrten Mannes, der sein Leben als Beamter in einem Büro der pakistanischen Botschaft in London fristen und dabei zusehen muss, dass sein Bruder in Karachi ein schönes Leben genießt, das ihm das Schreiben beschert. Dieser Onkel Omar, unter anderem ein Profi-Cricketspieler, war ein enger Freund des späteren pakistanischen Staatschefs Zulfikar Butto und ein echter Sunnyboy. Schon als Junge in Indien stand er stets in der Gunst der Mutter und der Mädchen. Für Kureishis Vater dagegen war er ein Objekt des Neides. Während sein Neffe mit seinem charismatischen Onkel viel mehr anfangen konnte als mit seinem strengen Vater.

Da sein Vater in seinem Roman häufig mit verfremdeten Namen den Leser in die Irre führt, versucht Kureishi in „Mein Ohr an deinem Herzen“ dessen Lebensgeschichte anhand von Onkel Omars Werken zu rekonstruieren, der darin ebenfalls das Leben der Kureishi-Familie in Indien zum Thema gemacht hatte. Zu den generationsübergreifenden Parallelen, die Kureishi dabei herausfindet, gehört einmal die Strenge seines Vaters, der wiederum unter der Strenge seines eigenen Vaters litt. Ebenso die unglücklichen Ehen seiner Großeltern wie auch seiner Eltern, wobei die Protagonisten in beiden Fällen sich nie etwas anmerken ließen.

Einer von 12 Geschwistern, beschreibt Shannoo in dem posthum entdeckten Manuskript seine wohlbehütete Kindheit in der britisch-indischen Provinz Poona, die sich nach dem Ende der britischen Herrschaft im Jahre 1947 im Territorium des neu ausgerufenen Staates Pakistan wiederfand. Seine durch diese plötzliche „Heimatlosigkeit“ desorientierten Brüder verstreuten sich in alle vier Winde. Er kam mit zwanzig nach Großbritannien, heiratete Kureishis englische Mutter und entdeckte für sich die Geborgenheit von Bromley, eines Londoner Vorortes.

Für Kureishi erklärt sich die Huldigung seines Vaters an den Vorort, den er selber in den siebziger Jahren als enge Hölle empfand, mit dessen Sehnsucht nach Halt. An die Stelle der kolonialistischen Vorurteile in der Heimat Indien waren hier nun die rassistischen Ressentiments getreten – geschützt in seinem Vorort-Kokon aus Büchern und Kleinfamilie, ließ er sich davon aber nicht beeindrucken. Er fuhr einfach nie mehr in seine Heimat.

„Mein Ohr an deinem Herzen“ ist ein Buch, in dem die Biografien von männlichen  Familienmitgliedern dominieren. Selbst seine ultrareligiöse indische Oma, eine robuste Persönlichkeit, bleibt in der Chronik unterbelichtet. Seltsamerweise stört das nicht weiter. Dafür werden die Lebensgeschichten zahlreicher Onkel dargelegt, die allesamt schillernde Typen sind. Zudem wirken Kureishis Lebensweisheiten oder die philosophischen Fragen, die er hier und da einstreut, nicht akademisch trocken, ohne jedoch leicht-spaßig zu sein. Etwa wenn er über den Blick des Westens auf den Osten räsoniert: „Eine gute Religion wie der Buddhismus oder eine Version des Hinduismus, wie von George Harrison vertreten … schien gut zum immer ungezügelteren Kapitalismus des Westen zu passen. … Wenn es mühsam wurde, ständig eine ‚Maschinerie des Begehrens’ zu sein, die bei Arbeit, Sex und Spiel Erfolg haben musste, konnte man sich nach getaner Arbeit bei der Suche nach spirituellem Frieden und ‚Einklang’ erholen.“

Zwischen Familien- und persönlicher Geschichte, Pakistan und England, Vorort und London, Cricket und Tschechow ist dem britischen Schriftsteller ein unglaublicher Spannungsbogen geglückt. Wenn Kureishi schreibt: „Wenn der Immigrant merkt, dass er die Welt, in der er lebt, nicht ganz versteht, versucht er manchmal, ihre Gefahren durch eine strenge Kontrolle seiner Kinder, vor allem aber ihrer Sexualität zu bannen“, Zieht man automatisch Parallelen zur Migrantengesellschaft hierzulande.

Kureishi empfindet sein Buch wie einen Kessel, in dem alles zusammengerührt wird, was ihm und um ihn herum bislang zugestoßen ist. Und er hat das Gefühl, dass es durch sein Werk seinem Vater etwas zurückgegeben hat. Denn jetzt liegt dessen Lebensgeschichte in einem Buch vor.

Text für Getidan: Gülcin Wilhelm

Hanif Kureishi: Mein Ohr an deinem Herzen: Erinnerungen an meinen Vater.
Aus dem Englischen von Henning Ahrens.
Fischer, Frankfurt am Main 256 S., 18,95 Euro

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