Reise in die Niederlage
Magisches Denken: David Grossmans großer Roman ist ein politischer Liebesroman

Ora fasst es nicht. So sehr hatte sie das Ende des Militärdienstes ihres Sohnes herbei gesehnt und schon alles für eine lange gemeinsame Wanderung vorbereitet. Und dann, aus heiterem Himmel, erklärt ihr Ofer, dass ihm sowohl die Zeit als auch die Nerven fehlten, sich ausgerechnet jetzt seiner allzu gefühligen Mutter anzunehmen.

Israel steht in den neunziger Jahren vor einem Großeinsatz in dem von ihm besetzten Westjordanland. Der Sohn will dabei sein, will seinen Dienst fürs Vaterland leisten. Und wie reagiert sie, seine Mutter, auf diese brutale Nachricht, dass sich ihr Sohn auch noch freiwillig zum Soldaten macht? Sie funktioniert. Wie in Trance bestellt sie ihren palästinensischen Fahrer ein, der ihr über die Jahre ein enger Freund geworden ist. Auf ihren Befehl hin chauffieren sie ihren Sohn gemeinsam in den wahrscheinlichen Tod. Noch bevor sie ins Auto steigen, begreift Ora, was auch sie angerichtet hat mit ihrem Anruf bei Sami. David Grossman, der Autor des Romans, benötigt nur einen Satz, um die ziemlich kipplige emotionale Lage einzufangen: „Ihr war das Herz in die Hose gerutscht, als sie sah, wie sein Gesicht sich verdunkelte und sein Blick sofort, in einer Mischung aus Zorn und Niederlage, verlosch, auf einen Blick hatte er alles kapiert, Sami hatte Ofer in Uniform und mit Waffe die Treppe runterkommen sehen und verstanden, dass Ora ihn jetzt darum bat, seinen bescheidenen Beitrag zur Kriegsanstrengung Israels zu leisten.“

Wie lebt man weiter, wenn man gerade seinen eigenen Sohn in den Krieg gefahren hat? Wenn man dabei, so wie Ora, mal eben einen seiner engsten Vertrauten verraten hat? Wenn man also dem Land gegenüber loyaler ist, als gegenüber denen, die man liebt oder zumindest schätzt? Wie fühlt sich man dann, wie fühlt man dann überhaupt noch etwas?

Der jüngste Roman von David Grossman, einer der berühmtesten Schriftsteller Israels, stellt die großen Fragen: Was tun sich einander liebende Menschen in einer militarisierten Gesellschaft an? Welche Fluchtmöglichkeiten organisieren sie sich, wenn die Realität nicht länger verdrängbar ist? Und: Lohnt es sich überhaupt noch, für Israel zu kämpfen, wäre das Exil nicht die humanere Lösung?

Eine Frau flieht vor einer Nachricht ist ein großer, durch und durch politischer Liebesroman. Er ist eine vielstimmige Ode an den Traum von der intimen Zweisamkeit als einzig verbleibendem Überlebensraum, und er ist eine lange Reise in die Kapitulation. Man darf an dieser Stelle getrost an die gleichnamige Platte der Berliner Band Tocotronics denken: Kapitulation. Erst wer die Waffen streckt, ist reif für ein anderes Leben. Nachdem Ora ihren Sohn bei der Soldaten-Sammelstelle abgeliefert hat und wieder nach Hause zurückgekehrt ist, gerät sie in Panik. Sie beschließt, nicht darauf zu warten, bis es an der Tür klingelt, und jemand ihr die Botschaft von Tod ihres Sohnes überbringt. Stattdessen wird sie die geplante Wanderung machen. Ohne ihren Sohn und ohne ihr Handy. Keine Nachrichten mehr für mich, solange Ofer im Krieg ist, so lautet Oras Credo.

Jenen Bruch mit dem offiziellen Israel allerdings begeht sie nicht allein. Sie nimmt Avram mit, ihre ehemalige große Liebe. Avram war selbst Soldat im Jom-Kippur-Krieg von 1973. Er wurde verletzt und geriet in ägyptische Gefangenschaft. Seitdem ist er schwer traumatisiert. In der für Grossman typischen, nämlich sehr vorsichtigen Erzählweise erfahren die Leser von seinen Folterungen durch lakonische Sätze wie „seit Avram waren Fingernägel keine Selbstverständlichkeit mehr.“

Ora und Avram beginnen also zu wandern. Und während sie tagelang nebeneinander her stapfen, während sie „Steinchen unter den Füßen“ spüren, gemeinsam schwitzen und sich atmen hören, sie sind ja nicht mehr die Jüngsten, während all dem erzählt Ora von ihrem Sohn. Avram hört zu.

Die vielen losen Enden ihrer Erinnerung werden sich irgendwie verbinden, das hofft Ora inständig, irgendwie werden sie einen Kokon spinnen und ihren Sohn mit einer gleichsam unsichtbaren Rüstung umgeben. Magisches Denken. Gleichzeitig weiß Ora um ihre totale Ohnmacht, und gerade deshalb setzt sie ihre gesamte Gefühlskraft ein, um diese Schutzfantasie Wirklichkeit werden zu lassen. Und während sie sich an zwanzig, dreißig Jahre Familiengeschichte erinnert und darüber ein ganz normales Leben in Israel nachzeichnet, während Avram, der von einem solchen Alltag seit seinem Kriegseinsatz ausgeschlossen ist, ihr zuhört, entsteht für die beiden buchstäblich ein Geschichtsraum, ein Raum für ihre eigene Geschichte, in den sie sich beide mit ihren Verwundungen zurückziehen können.

Innerhalb all dieser schmerzhaften und zauberhaften Geschichten, schicken sie ihre verlorene Liebe in eine zweite große Runde. Und so hat Grossman, der mühelos zwischen weiblichen und männlichen Erzählperspektiven hin und her wechselt, auch einen Roman über Leidenschaft im fortgeschrittenen Alter geschrieben. Ohne je auch nur in die Nähe von klebrigen Phantasien alter Männer zu geraten. Obwohl der Autor, ebenso wie seine Hauptfiguren große Romantiker sind und in der Sinnlichkeit eine letzte, zumindest halbwegs verlässliche Friedensinsel sehen,

Grossman wählt seine Worte mit großer Vorsicht. Fern von jedem Pathos versuchen sie die kleinen Gesten einzufangen – die, die Raum geben für riskante Gefühle: „Sag mal… – Was ist? – Kann ich mich dir ein bisschen anschließen? – Wobei? – Ach nichts, lass es. – Warte, warte! Du meinst… – Nein, nur wenn du … – Aber du … Warte, jetzt? – Nein? – Ihr Körper beginnt im Schlafsack zu zappeln. Du meinst, wir … – Er bejaht mit den Augen. – Bei mir oder bei dir?“

Der 1954 in Jerusalem geborene David Grossman zählt nicht nur zu den großen israelischen Romanciers und Kinderbuchautoren, der ehemalige Friedensaktivist ist auch ein überzeugter Kritiker des zionistischen Projekts und Apologet der Zwei-Staaten-Lösung. Gleichzeitig verteidigt er das Recht Israels, sich gegen Terrorakte zu verteidigen.

Während des zweiten Libanonkrieges in 2006 forderten er und seine Schriftstellerkollegen Amos Oz und A.B. Yehoshua die sofortige Einstellung der israelischen Kriegshandlungen. Und doch – bei aller Kritik und auch aller Skepsis, wie lange es Israel noch geben wird, Grossman und seine Frau Michal, eine bekannte Kinderpsychologin, haben das Land zum Lebensmittelpunkt für ihre ehemals fünfköpfige Familie gewählt. Sie sind also Teil der im Roman exponierten Widersprüche.

Als Grossman 2003 mit dem Schreiben begann, leisteten seine beiden Söhne ihren Militärdienst ab. Kurz bevor das Werk beendet war, fiel Uri, sein jüngster Sohn. Und so fügt Grossman dem Roman am Ende folgende biographische Notiz hinzu: „Nach der Trauerwoche kehrte ich zu dem Roman zurück. Der größte Teil war bereits geschrieben. Mehr als alles andere hat sich der Resonanzraum der Wirklichkeit verändert, in dem die letzte Version entstand.“ Der Versuch, den brutalen Einbruch der Kriegsrealität mithilfe der Kunst, der Kunst des Erzählens zumindest abzufedern, ist damit gescheitert. Gleichzeitig hat er seinem Sohn, der – wie Grossman mehrfach betont – während seiner Fronturlaube auch die Romanfiguren und ihre Entwicklungen mit seinem Vater durchsprach, ein einzigartiges Denkmal gesetzt.

Insofern zeigt Grossman noch in seinem bitteren Scheitern einen Möglichkeitsraum auf: Der Praxis des Krieges, welche die Menschen in Freund und Feind aufteilt, kann der Zivilist nur immer wieder aufs Neue mit der Kunst der Widersprüchlichkeit und des Widerspruchs begegnen. Nur wer für sich auf der Gleichzeitigkeit von Glück und Scheitern beharrt, auf der Verwobenheit von Tod- und Lebendigsein, nur der – auch das führt dieser Roman vor Augen – kann weiterleben, kann mit seinen Erinnerungen weiterleben.

Text: Ines Kappert

Text erschienen: freitag, 23.01.2010

David Grossman: Eine Frau flieht vor einer Nachricht.

Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer,

Hanser, München 2009, 736 S., 24,90 Euro

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