Die Kunstbiennale in Pakistans Kulturstadt Lahore ist ein Zeichen für die Explosion kultureller Bedürfnisse in einem traumatisierten Land.

Allahu Akbar! Die Szene hatte etwas Symbolisches. „Lahore steht am Scheideweg“, hatte Mohsin Hamid gerade ausgerufen. Das alte Fort in seinem Rücken war festlich illuminiert. Hunderte Gäste saßen erwartungsvoll im Park der historischen Residenz der indischen Moghul-Kaiser an gedeckten Tischen.

Da unterbrach der abendliche Gebetsruf die Festansprache des pakistanischen Schriftstellers zur Eröffnung von Lahores erster Biennale vor der Kulisse des gewaltigen Eingangstors. Wer ist stärker, so ließe sich diese unerwartete Schrecksekunde interpretieren. Die Religion? Oder die Kunst?

Dass nun auch Pakistans uralte Kulturstadt Lahore eine Biennale hat, mag man mit Kopfschütteln quittieren. Gibt es nicht längst zu viele davon? Hatte sich nicht schon vergangenen November in Karachi eine erfolgreiche Version des Formats etabliert (taz vom 31.10.2017) Warum nun noch eine in Lahore?

Doch schon die Tatsache, dass es überhaupt Biennalen in Pakistan gibt, ist ein kleiner Erfolg in dem muslimischen Land mit einem der schärfsten Blasphemie-Gesetze der Welt. Vergangenen November musste Justizminister Zahid Hamid wegen einer „unreligiösen“ Gesetzesformulierung zurücktreten.

Ein blasphemischer Sturmlauf ist die erste Lahore-Biennale erwartungsgemäß nicht geworden. „Faith, Unity, Discipline“ – das Motto der 1947 gegründeten Islamischen Republik hängt an allen öffentlichen Wänden und Gebäuden der Stadt.

Der riesige goldene Kubus, den Komail Aijazuddin vor die Alhamra, Lahores, im Stil des alten Forts erbauten Kulturzentrums gestellt hat, übt sich eher in Ambivalenz, so wie er die Form der Kaaba aufnimmt.

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Wichtiger als die direkte Konfrontation mit der religiösen Ikonographie freilich ist die Tatsache, dass sich mit der Lahore-Biennale eine weitere Instanz etabliert hat, die eine Bevölkerung visuell herausfordert, die kaum mit zeitgenössischer Kunst umgeht. Millimeterweise bauen solche Initiativen ihr Terrain gegen den religiös definierten Raum in einer eingeschränkten Gesellschaft aus.

Dort lässt sich thematisieren, was sonst nicht ohne weiteres sagbar wäre. In Lahores Lawrence Gardens-Park hat Ali Kazim eine künstliche Ruinenlandschaft aus winzigen kleinen Ton-Herzen installiert. Sie spielen auf die Restriktionen an, die den Ausdruck gegenseitiger Liebe in aller Öffentlichkeit unterbinden sollen.

In dem 1635 erbauten Shahi Hammam hat als eine der wenigen indischen Künstlerinnen Manisha Gera Baswani ihre „Postcards from Home“ drapiert. Darauf erinnern sich 47 Künstlerinnen, die noch die Teilung Indiens und Pakistans 1947 erlebten, an diese Zäsur.

Unter dem Schirm der Biennale wagen sich auch kleine Initiativen in die Öffentlichkeit. Die Kuratoren Abdullah Qureishi und Natasha Malik organisierten in einer abgewrackten Fabrik eine Schau queerer Kunst. „River in the Ocean“ nannten sie sie nach dem Werk der feministischen Künstlerin Lala Rukh – Berlin Feeling in Lahore.

Vor allem aber ist die zweite pakistanische Biennale ein Indiz für den kulturellen Aufbruch im Land. „Das ist der Moment“, beschwört die siebzigjährige Keramikkünstlerin Sherezade Alam beim gemeinsamen Mittagessen den kulturellen Aufbruch in ihrem Land.

„Multiplizieren Sie die Formulierung ruhig mit einhundert“, lacht Sabah Hussain über die These von der Biennale als einem Indiz für die gewachsenen kulturellen Energien in ihrem Land.

Die 1959 geborene Künstlerin ist selbst das beste Beispiel dafür. Sie arbeitet als Künstlerin, Journalistin, studierte in Boston und Kyoto. Jetzt unterrichtet die progressive Intellektuelle noch in der privaten „University of Culture & Arts“, die sie mit Gleichgesinnten gegründet hat.

„Inzwischen bewerben sich jedes Jahr 9000 Studenten zur Aufnahmeprüfung am National College of the Arts“, der traditionsreichen Kunsthochschule des Landes. Jeder zweite, ob Rechtsanwalt oder Chemiestudent, gibt als Nebenberuf Schauspieler oder Sänger an.

Auf der Biennale präsentiert Hussain ihr Werk „Nur Jahan“ – auf 16 transparenten Glastafeln ruft sie das architektonische Erbe der gleichnamigen, einzigen Moghul-Kaiserin auf.

Die Pakistaner wurmt, dass ihr Land nur als „failed state“ wahrgenommen wird. „Sehen Sie hier irgendwo Terroristen, die mit Maschinenpistolen herumfuchteln?“, frotzelt Ustad Bashir Ahmad über das Pakistan-Bild des Westens.

Den kleine graue Mann mit der viereckigen Nickelbrille, Jahrgang 1954, Professor am National College of Arts und Vater der Renaissance der Miniaturmalerei, treffen wir mit seinen Studentinnen im Hof eines Design-Geschäfts. „Das ist doch alles Propaganda.“

Sein Einwand ist zweckdienlicher Optimismus. Kaum zwei Jahre ist der Terroranschlag her, bei dem die Taliban 27 Angehörige der christlichen Minderheit in der Hauptstadt der Punjab-Provinz in die Luft bombten. Und zwei Tage bevor die Biennale eröffnete, starben neun Menschen bei einem Selbstmordattentat.

Doch Pakistan ist eben mehr als das. Bei Ahmad lernten alle, die heute das pakistanische Kunstwunder ausmachen. Zu seinen berühmtesten Schülern zählt Imran Qureishi, den die Deutsche Bank 2013 zum Künstler des Jahres kürte.

Im Sommerpalast des Lahore-Forts, einem unterirdischen Schloss, das den Moghul-Kaiser in der heißen Jahreszeit diente, demonstriert der 1972 geborene Künstler, der mit seiner Kombination von Moghul-Malerei und abstrakter Formensprache bekannt wurde, seine Freude an der ästhetischen Innovation.

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Auf dem Weg zum Posthumanen: Imran Qureishi: Idea of Landscape. Installation im alten Sommerpalast der Moghul-Kaiser in Lahores Fort. Foto: Ingo Arend

Mit Hunderten, grün leuchtenden Fiberglass-Lampen in einem verspiegelten Raum ruft er das Bild einer sanft bewegten, vollkommen künstlichen Landschaft hervor – ein digitaler Non-Space, der alles Menschliche hinter sich gelassen hat.

Neben Stars wie Quresihi stehen dann wieder Arbeiten des Awami-Kollektivs, das sich 2015 als Reaktion auf die zunehmende Einschränkung des öffentlichen Raums für Kultur gegründete hatte.

„Wenn die Künstlerinnen 1000 Drachen hätten steigen lassen, das wäre doch mal was gewesen“, erinnert Salima Hashmi an die Idee des Kollektivs, das staatliche Verbot des Basant – des traditionellen Drachenfestivals im Frühjahr – mit einer kollektiven Drachensteig-Aktion auf den illuminierten Dächern von Lahores Altstadt zu konterkarieren.

Die Grande Dame der feministischen Kunst Pakistans zählt zu den Mitunterzeichnern des „Women Manifesto of Art“ von 1983. Und sitzt – dafür muss man offenbar nach Pakistan fahren – auf einem, ausschließlich mit fünf Frauen besetzten Podium zu „Art and Activism“. „Ich stelle mir vor, dass die Biennale eine wird, die die vielen Fäden der unabhängigen Szene zusammenführt“ verteidigt Qudsia Rahim, die energiegeladene Chefin der Lahore Biennale beim Gespräch in dem abgetretenen kleinen Büro im Stadtteil Model Town ihre Entscheidung für ein scheinbar ausgelutschtes Format.

Nachdem Pakistans Vorzeigekünstler Rashid Rana kurz vor der Eröffnung im letzten Jahr als Kurator abgesprungen war, musste die Kunsthistorikerin verschieben und die Fäden selbst in die Hand nehmen, kuratorisch wie praktisch. Noch einen Tag vor der Eröffnung eiste sie höchstpersönlich ein paar Beamer, die ihr die Biennale im arabischen Sharjah ausgeliehen hatte, aus dem Zoll.

Die jahrelange Anstrengung, ohne viel Erfahrung ein im Land bislang unbekanntes Kunstfestival zu organisieren, ist der Frau, die lange in New York lebte, anzumerken, als sie während ihrer Ansprache auf der Eröffnungszeremonie stockte und zu weinen begann.

Es sind Momente wie diese, die den Unterschied zu den etablierten internationalen Biennalen markieren: Enthusiasmus, Improvisationsvermögen, persönlicher Einsatz, der unbedingte Glaube, dass es sich lohnt, Menschen Kunst nahe zu bringen.

Vergesst die Prestige-Maschine Venedig! Schaut auf die Biennalen des Südens! Hier kann der (Kunst-)Glaube noch Berge versetzen. Und die Religion sanft unterminieren.

Hamra Abbas‘ Lichtbox „The Black Square“ etwa am Eingang des Sommerpalastes entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Fehldruck, auf dem das scheinbar undurchdringliche Schwarz nur durch die überblendeten Farben Cyan, Gelb und Magenta entsteht. Gott mag groß sein. Aber er ist auch nur einer aus vielen.

Ingo Arend

taz | 07-04-2018

Bild ganz oben: Suche nach der Zukunft. Firoz Mahmuds „Soaked Dream“. Fotografie in Lichtbox im alten Sommerpalast der Moghul-Kaiser in Lahores Fort. Foto: Ingo Arend

https://www.lahorebiennale.org/