Andreas Maier (Foto: Jürgen Bauer, Suhrkamp Verlag)

Heimatvermessung

„Dehaam is dehaam!“ war auf einer Baumscheibe eingraviert, die Onkel J. einmal seiner Mutter als Geschenk mitbrachte. Daheim ist daheim – das könnte auch Andreas Maier in direkter Nachfolge des Onkels behaupten, kehrt er doch mit seinem neuen Roman „Das Zimmer“ in die heimische Wetterau zurück, wie er sie schon in seinem Debütroman „Wäldchestag“ vorstellte. Dass er draußen in der Welt, und sei es auch nur in Potsdam, sichtlich fremdelte, ließ sich zuletzt an dem etwas sperrigen Roman „Sanssouci“ ablesen. Das war der Endpunkt einer Prosa, die dem Hörensagen nachsprach und so etwas wie Wahrheit immer aus den umlaufenden Gerüchten zusammenfügte. Damit ist jetzt Schluss. Maier setzt nun auf ein erinnerndes Erzählen, mit dem er in die Tiefenschichten des Heimatlichen vordringt.

„Onkel J. – Heimatkunde“ könnte der neue Roman auch heißen, wenn Maier nicht schon im Frühjahr einer Sammlung von Kolumnen just diesen Titel mitgegeben hätte. Der Onkel spielte dort nur eine marginale Rolle, nun aber wird er zur Zentralfigur der Rückschau auf die späten 60er und frühen 70er Jahre, die Zeit der am Arbeitsplatz reichlich verzehrten Biere, der Filterzigaretten, die das Land zum Dampfen brachten, der Frauen in Kittelschürzen und der Hirschgeweihe in ländlichen Gasthäusern.

„Damals“ – um dieses zentrale Wort endlich zu benutzen – hatte „bereits die Gegenwart einen Gelbstich“. Maier blickt darauf als das Kindes, das er, das sein Erzähler, damals war. Dieser Blick zeichnet sich dadurch aus, dass er von Geschichte und Veränderung noch nichts weiß. Die Welt war immer schon so, wie sie jetzt gerade ist, wie eine Spielzeugeisenbahn, bei der alles an seinem vorbestimmten Platz steht: die Mutterfigur, der Onkel, die Feuerwehrautos, der Rauch.

Zugleich aber weitet Maier diese Perspektive, denn der Erzähler erinnert sich von heute aus und erfindet einen Arbeitstag des Onkels, so wie er hätte sein können. Dabei sitzt er im ehemals großmütterlichen Haus in Bad Nauheim, in eben jenem Zimmer, das einst der Onkel bewohnte. Damals war es eine Art schwarzes Loch. Niemand außer dem Onkel hätte es freiwillig betreten, denn der Onkel wusch sich nur selten und verbreitete um sich herum einen penetranten Geruch. So lag das Vorhandensein dieses Zimmers damals unterhalb der Wahrnehmungsschwelle; jetzt ist es der Ort des Schreibens, der Fixpunkt dieser neu zu vermessenden Heimatwelt.

Es ist bestimmt kein Zufall, dass Maier den Außenseiter der Familie ins Zentrum rückt. Auch an Abstoßungsreaktionen lässt sich vieles ablesen. Der Onkel, eine „Zangengeburt“ und folglich geistig behindert, sehnte sich nach nichts mehr, als nach Zugehörigkeit. Im Keller unterhielt er eine Werkstatt, in der er herumwerkelte und kleine Maschinen auseinanderschraubte, ohne sie jemals wieder zusammenzubekommen. Er spannte Schrauben in den Schraubstock und feilte eifrig daran herum, stunden- und tagelang. Doch die Frage, welchen Zweck das habe, machte ihn wütend, weil er sie nicht beantworten konnte. Der Onkel war ein Wichtigkeitssimulant, den aber schon ein Kind allzu leicht durchschaute. Mit seiner angeborenen Naivität dient er als Übungsfigur, denn bei ihm wird erkennbar, was Andere etwas eleganter zu verbergen wissen.

Maier gelingt es, im Onkel das Typische bloßzulegen und damit aus dem Porträt des Sonderlings aus der Provinz ein Porträt des Deutschlands seiner Zeit zu machen, eines Landes, das irgendwo zwischen Nazivergangenheit und ungebrochener Fortschrittsgläubigkeit feststeckte. Wenn der Onkel Baustellen besichtigt (die neue Umgehungsstraße oder den Messeturm in Frankfurt), dann strahlt er vor Glück, stets in der Hoffnung, mit den Arbeitern ein fachsimpelndes Gespräch über neue und neueste Maschinen führen zu dürfen, was ihm aber nie gelingt. So zu tun, „als gehörte er dazu“ – das ist die Grundmelodie dieses Lebens, das tragisch zu nennen wäre, wenn der Onkel selbst es genauer durchschauen würde. Doch zu seinem Glück vergisst er alles, was ihm widerfährt, sofort: die Schläge, die er in der Schule einstecken musste, die Verachtung seines Vaters, die eigene grenzenlose Einsamkeit. Weil er sich aber stets zu den Mächtigen hingezogen fühlt, läuft er seinen Peiniger hinterher wie ein treues Hündchen seinem Herrn.

Damit hat auch seine Liebe zu Bergfilmen (mit Luis Trenker) und zur deutschen Wehrmacht (der er nie angehörte) zu tun. Der eigene, „nazibraunen“ VW-Varaint aber verwandelt ihn in einen richtigen Verkehrsteilnehmer. Mit diesen großen Sehnsuchtsgebieten träumt er sich in eine überschaubare, geordnete Welt hinein, in der er selbst eine Rolle spielen könnte. Großartig die Szene, in der der Onkel im Vollgefühl seiner Wichtigkeit den Wagen aus der Garage fährt. Dieses Ritual wird zum wiederkehrenden Fest. Als Nebeneffekt der Autobegeisterung und allgemeinen Mobilmachung ist, wie für die Einzelnen unmerklich „Verkehr“ entsteht und die Friedberger eines Tages plötzlich im Stau stehen. Nicht nur in solchen Passagen erinnert Maiers Prosa an Peter Kurzeck, einen anderen großen hessischen Erinnerungskünstler.

Mit den Figuren Kurzecks teilt Onkel J. auch die Faszination für das anrüchige Frankfurter Bahnhofsviertel, dessen weiblichen Verlockungen er einigermaßen wehrlos ausgeliefert ist. „Heute“, so kommentiert der Erzähler, „würde mein Onkel die ganze Nacht Fickwerbungen schauen, auf ihre Art auch Natursendungen, aber die gab es damals noch nicht, damals gab es nur die Bahnhofskinos, eine ganz eigene Welt für sich (und die Wetterauer)“. Damals aber war er hin und hergerissen zwischen der Versuchung und der eingefleischten Pflicht, den Zug zu erreichen und pünktlich wie immer zu Hause bei der Mutter zu sein, bei der er sich zeitlebens zuverlässig an- und abmeldete: „So kann man wechselweise in meinem Onkel entweder den Triumph der Natur über das Gesetz oder den Triumph des Gesetzes über die Natur sehen. In Wahrheit aber steht er genau dazwischen und ist vermutlich beidem völlig wehrlos ausgeliefert.“ Von diesem Punkt aus ist der Onkel zu begreifen und mit ihm sein Land.

„Das Zimmer“ ist eine Heimatvermessung, die weit über die übliche Erinnerungsprosa und all die gängigen Kindheitsbeschwörungen hinausgeht. Maier entwickelt aus den Details und dem ganz Besonderen eine Analyse der bundesdeutschen Geschichte und bleibt dabei doch ganz und gar erzählerisch. Unbefriedigend ist nur der etwas abrupte Schluss – als hätte er, schon bevor der erfundene Tag im Leben des Onkels zu Ende ist, plötzlich die Lust verloren. Doch vielleicht liegt das daran, dass es sich um den Beginn einer „großen Familiensaga“ handelt, wie der Klappentext ankündigt. Man darf also auf eine Fortsetzung hoffen. Schon jetzt ist klar, dass die Wetterau, die doch eigentlich nur als Autobahnraststätte bekannt ist, zu den großen literarischen Landschaften Deutschlands gezählt werden muss.

Text: Jörg Magenau





Andreas Maier: Das Zimmer

Roman, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010,

204 Seiten, 17,90 Euro


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