Schreibtisch mit Geheimfach

Nicole Krauss’ Roman „Das große Haus“ hat viele Zimmer und steckt voller ergreifender Geschichten

Das große Haus, so hieß vor 2000 Jahren die Schule des Rabbi Jochanan ben Zakkai. Sie entstand nach der Zerstörung Jerusalems und bot denen, die ihre Heimat verloren hatten, eine neue Form der Zugehörigkeit. Die Antwort des Rabbis auf die Diaspora lautete: „Verwandle Jerusalem in eine Idee. Verwandle den Tempel in ein Buch, das so groß, so heilig und so komplex ist wie die Stadt selbst“ – und versammle darum herum das Volk.

Was in der jüdischen Geschichte den Talmud und die Talmudschulen hervorbrachte, ist für die New Yorker Schriftstellerin Nicole Krauss eine konkrete Anweisung fürs Erzählen. Ihr dritter Roman ist so ein „großes Haus“ mit vielen Zimmern und voller Geschichten – auch die des Rabbi kommt darin unter.

Mit ihm greift sie das Thema auf, das in der jüdischen Urkatastrophe angelegt ist: Wie lebt man weiter, wenn man etwas Schreckliches überlebt hat?

Die vier Erzählräume ihres Romangebäudes sind thematisch miteinander verbunden, haben auf der Handlungsebene aber nur dezente Berührungspunkte. In verschiedenen Variationen geht es um das Verhältnis von traumatisierten Eltern zu ihren Kindern und um die Frage, wie der erlebte Schrecken in der nächsten Generation fortwirkt – auch oder gerade dann, wenn die Kinder nur lückenhaft darüber Bescheid wissen. Sie werden geprägt von Ereignissen, die lange vor ihrer Geburt geschahen. So haben die Kinder auszufechten, was den Eltern widerfuhr.

Das zentrale Möbelstück im Romanhaus ist – wen wundert’s – ein überdimensionaler Schreibtisch mit vielen Schubladen und einem Geheimfach, an dem eine New Yorker Schriftstellerin ihre gefeierten Werke verfasst. Sie hat ihn von einem jungen chilenischen Autor übernommen, der nach Chile zurückkehrte und unter Pinochet ermordet wurde. Als eines Tages eine Frau bei ihr auftaucht und den Tisch beansprucht, der tatsächlich ihrem Vater gehörte, beziehungsweise dem Großvater, der 1944 aus Budapest deportiert wurde, stürzt die Schriftstellerin in eine existenzielle Leere. Doch zugleich geht die Tür zu einer anderen Geschichte auf: der des Kunstsammlers, der in seinem Haus in Jerusalem das Budapester Arbeitszimmer seines Vaters originalgetreu rekonstruieren möchte und deshalb die in alle Welt verstreuten Möbel aufspüren muss. Das ist seine restaurative Lebensaufgabe. „Im Gegensatz zu den Menschen“, so seine Wahrheit, „verschwinden die leblosen Dinge nicht einfach.“ Seine zwei Kinder aber leben nur auf sich bezogen in einem Haus in London und kennen ihn nur als flüchtigen Besucher.

Eine dritte Geschichte führt direkt in die israelische Gesellschaft. Ein Vater und seine zwei Söhne wollen nach dem Tod der Mutter wieder zueinander finden. Der Älteste kehrt als angesehener Jurist nach langer Abwesenheit aus London zurück; in der Erzählung des Vaters wird deutlich, was ihn in die Ferne trieb: Als Soldat im Krieg gegen Ägypten ließ er einen schwer verletzten Kameraden in der Wüste liegen, um sich selbst zu retten. Die Schuldstarre, in die er danach verfiel – eine Art modernisierte Fassung des Holocaust-Überlebenssyndroms –, löste sich erst mit dem Entschluss, wegzugehen und ein anderes Leben zu beginnen.

Und dann ist da noch die alte, alzheimerkranke Schriftstellerin in London. Ihr Mann erzählt nach ihrem Tod ihre gemeinsame, fünfzig Ehejahre währende Geschichte, die einer zarten, rücksichtsvollen Gemeinschaft. Erst postum entdeckt er, dass sie, die 1939 einen Kindertransport nach England begleitete und damit auch ihr eigenes Leben rettete (während ihre Eltern und Geschwister ermordet wurden), kurz nach dem Krieg ein Kind zur Welt brachte, das sie wenige Wochen nach der Geburt zur Adoption weggab – per Anzeige in der Zeitung.

Er ist entsetzt und fragt sich nun, wie diese schockierende Neuigkeit das Bild verändert, das er von seiner Frau hatte – und von ihrer Ehe. Dass auch diese Schriftstellerin lange an besagtem Schreibtisch saß (bis sie ihn dem jungen Chilenen schenkte, der sie wohl an ihren Sohn erinnerte), ist dagegen eher eine Äußerlichkeit. Der Schreibtisch stiftet den erzählerischen Zusammenhang und lässt eines Tages auch den Kunstsammler aus Jerusalem im Haus in London auftauchen. Solche durchsichtigen architektonischen Pläne sind der Preis dafür, wenn ein Roman als Haus aus vielen Zimmern zusammengebaut werden muss.

Einsamkeit, Alter, Liebe und die Verwandlung von Leben in Literatur sind die universalen Themen in „Das große Haus“. Die jüdische Geschichte, der Holocaust und die israelische Gegenwart sind tragende Fundamente, aber nicht die eigentliche Innenausstattung. Krauss erzählt suggestiv, lebendig, mit sinnlicher Intensität und meist in der Ich-Form, um ihren Figuren nahezukommen. Ihr Einfühlungsvermögen ist enorm. So gelingt es ihr, einer 36-jährigen Mutter zweier Kinder – sie ist mit ihrem Kollegen Jonathan Safran Foer verheiratet – scheinbar problemlos, sich in alte Menschen hineinzuversetzen oder vom Leiden an Kinderlosigkeit zu erzählen, als kenne sie das aus eigener Erfahrung. Die Empfindungsgenauigkeit ist ihre Stärke.

Dass sie ihr Bemühen, eine raffinierte, komplexe Literatur zu erzeugen, nicht verbergen kann, ist dagegen ein zu vernachlässigender Mangel. Wenn da ein Vater seinen Sohn in der Du-Form anspricht oder die New Yorker Autorin ihre Geschichte an „Euer Ehren“ adressiert, was sich erst spät und wenig überzeugend klärt, lässt das einen überschießenden Kunstwillen ahnen, den man halt ertragen muss, um diese schönen, ergreifenden Geschichten genießen zu können.

Text: Jörg Magenau

zuerst erschienen in Tagesspiegel (11.01.2011)

Nicole Krauss: Das große Haus

Roman. Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald

Rowohlt Verlag, Reinbek 2011

384 Seiten, 19,95 €.

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