„Venushaar“ ist ein Farnkraut. In Rom betrachte man es als Unkraut, in Russland dagegen sei es eine Zimmerpflanze, die ohne menschliche Wärme stirbt, sagte Michail Schischkin gestern Abend bei der Verleihung des Internationalen Literaturpreises 2011 im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Sein ausgezeichneter Roman „Venushaar“ handle, bei aller Gewalt, die darin thematisiert wird, doch vor allem „von der Überwindung der Grausamkeit durch die Liebe.“

Der 1961 geborene Schischkin lebt seit 1995 in Zürich. Lange Jahre hat er dort als Dolmetscher in einer Asylantragsstelle gearbeitet, wo unentwegt Geschichten von Gewalt, Folter, Vertreibung, Flucht vorgetragen werden. Die Asylbehörde ist eine „Arche, prallvoll mit Menschen, die keiner haben will“, heißt es im Roman, in dem eben so ein „Dolmetsch“ in eben so einer Behörde sitzt und all diese Geschichten aufsammelt und daraus einen großen Chor der Verfolgten macht. Dieser Ort, an dem die Leute nebensächlich sind, weil es „nur um die Geschichten geht“, generiert Literatur wie von selbst. „Wahrheit gibt es nur, wo etwas zu verbergen ist“, heißt einer der zentralen Sätze des Romans, was im Umkehrschluss wohl auch bedeutet, dass vieles von dem, was dort erzählt wird, Fiktion ist, zweckdienliche Erfindung wie alles Erzählen. Doch für die Literatur ist dieser Unterschied weniger bedeutsam als für die Bürokratie, die Asylgenehmigungen erst nach Prüfung des Wahrheitsgehaltes erteilt.

Dass mit Schischkin auch sein deutscher Übersetzer Andreas Tretner ausgezeichnet wurde, passt zu diesem Buch, in dem das Übersetzen selbst eine zentrale Rolle spielt und Internationalität nicht bloß eine Etikette ist, sondern als Bewegungsform der modernen Welt beschrieben wird. Wenn die Menschen Grenzen überschreiten, und keineswegs freiwillig, muss auch die Literatur „international“ sein, und sie ist es ja auch längst. „Ein Russe kann überall leben, auch in Zürich“, sagte Schischkin. Obwohl die Schweiz ein sehr langweiliges Land sei, in dem nichts passiere, hält er den Schritt, ins Ausland zu gehen, für unverzichtbar für jeden Schriftsteller. Nur so könne man das eigene Land genauer sehen. Die fremde Sprache sei wie ein Spiegel, und wer „möchte schon in einem Haus ohne Spiegel leben“.

Der Literaturkritiker Lothar Müller hob als Sprecher der Jury in seiner Laudatio besonders die Leistung des Übersetzers hervor, der die Vielstimmigkeit und wechselnden Perspektiven des Romans zu bewältigen hatte: Bibelpassagen ebenso wie den Ton von Verhörprotokollen, Liebesdialoge wie Lanzersprache, Merksätze, Wortspiele und Verballhorntes. Von „unentmischten Nachrichten“ sprach Hanns Zischler in der Festrede. Er präsentierte sich als einen notorischen Zeitungsleser, der ohne den morgendlichen Informationssalat nicht leben kann, auch wenn er weiß, dass es der Literatur bedarf, um das Graubrot der Nachrichten in Lebensstoff zu verwandeln. Schischkin überliefere in „Venushaar“ Geschichten, die in den Zeitungen zu kleinen Nachrichten verkürzt würden und damit stumm blieben. Er „entmische“ die Nachrichten und gebe den Flüchtlingen aus Tschetschenien eine eigene Stimme. „Nach der Lektüre dieses Romans liest man das Neue vom Tage in der Zeitung mit anderen Augen“, sagte Zischler.

Der in diesem Jahr zum dritten Mal vergebene „Internationale Literaturpreis“ ist mit 35.000 Euro dotiert, die sich der Autor (mit 25.000 Euro) und der Übersetzer (mit 10.000 Euro) teilen. Der Preis hat schon jetzt große Bedeutung gewonnen, weil er eine Stelle besetzt, die bisher leer geblieben ist. Er ist wichtig, weil die Welt tatsächlich größer ist als Deutschland und Internationalität für die Literatur zu einem Maßstab geworden ist, an dem sich ihre Weltzugewandtheit, ihr Gegenwartsbezug und nicht zuletzt ihre Qualität ablesen lässt.

Jörg Magenau

zuerst erschienen in Börsenblatt online

Michail Schischkin: Venushaar
Deutsche Verlags-Anstalt (8. März 2011)
gebundene Ausgabe: 560 Seiten

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