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Volker Braun 2006

Irgendwann hat er sich dann doch breitschlagen lassen. Der Suhrkamp Verlag drängte hartnäckig darauf, „diese Sachen“ zum Druck zu bringen, Volker Brauns „Arbeitsbuch“. Aber das, so notierte Braun im November 2005 in konsequenter Kleinschreibung, „schließe ich aus; das hieße, die identität herzugeben, meine (nicht intimste, aber) unbefangene existenz, mit der ich nur selber umgeh.“ Noch im Herbst 2008 erteilte er Cheflektor Raimund Fellinger die Absage, damit sei frühestens zehn Jahre nach seinem Tod zu rechnen, „im günstigsten Fall 2039, im ernsten fall 2019“. Schließlich muss Braun sich dann aber geradezu erpresst gefühlt haben im Kampf um die Aufzeichnungen: „nun sehe ich mich als geisel dieser notate, und der verlag nimmt die narrentexte aus dem programm, weil ich die geheimen nicht hergebe. so wäre ich zuletzt der narr im eigenen werk.“ Und also gab er nach.

Die sanfte Nötigung, die da stattgefunden haben mag, ist jedoch sehr zu begrüßen, denn sie hat ein Werk zutage gefördert, das den Dichter und Denker Volker Braun in seiner Werkstatt als Sprach-Arbeiter sichtbar werden lässt. Das erste Arbeitsbuch, das die Jahre 1977 bis 1989 und damit die Endphase der DDR umfasste, erschien 2009. Offenbar hat die Publikation nicht dazu geführt, dass Braun die Unbefangenheit seiner dichterischen Existenz verloren hätte. Denn nun liegt ein zweiter, wieder 1000 Seiten umfassender Band vor, der von 1990 bis 2008 reicht. Er führt aus der sogenannten Wendezeit, in der dem gelernten Sozialisten und marxistisch geschulten Theoretiker nicht nur das Denken in Bewegung und die Begriffe ins Schwanken gerieten, bis in unmittelbare Gegenwartsnähe, und einen Mann von gut fünfzig Jahren ins fortgeschrittene Alter des knapp Siebzigjährigen.

Dabei wird der Übergang in jene kapitalistische Gesellschaft nacherlebbar, die Braun mit seinem Freund, dem Lyriker Karl Mickel, mit Staunen und produktiver Distanz zu betrachten bemüht ist: „nach uns die warenflut“. Es ist eine Welt, die sich machtvoll um Arbeit und Geld herum organisiert. Damit verlieren die Dinge und die Worte ihre gewohnte Bedeutung – so wie „Schwarze Pumpe“ plötzlich nicht mehr das Braunkohlekombinat in der Lausitz bezeichnet, sondern eine „wahlfinanzierungsgesellschaft der cdu“ vermuten lässt. Und wenn im Sommer 1990 die Geldtransporter mit Blaulicht und Wachschutz einrollten, um die neuen Bankfilialen zu bestücken, notierte Braun: „es ist eine okkupation, die banken marschieren bewaffnet ein.“

„Werktage“ – so der Titel der Arbeitsbücher – ist eine gewaltige Text- und Materialsammlung, die fraglos Teil des Werkes ist. Der Titel steht in der Tradition der Brechtschen „Arbeitsjournale“. Dichtung wird da eben nicht pathetisch als in die Welt gefallenes Werk begriffen, sondern als ein Gewirktes, als Produkt eines künstlerischen Arbeitsprozesses, in dem der Dichter als Wortwerker zu beobachten ist. Alles ist im Fluss, im Werden, und da heraus gilt es, die einzelnen Werke zu schöpfen. Es ist kein Zufall, dass Braun sich – wie vor ihm Franz Fühmann – immer wieder für Bergarbeiter und Bergwerke interessiert hat. Denn dort, wo beispielsweise seine Erzählung „Die hellen Haufen“ (2011) spielt, finden nicht nur die Kämpfe um Arbeitsplätze, Zechenschließungen und Eigentum statt, der Berg ist auch so etwas wie ein Metapher für die Dichtung. Der Dichter Braun fördert geduldig im Bergwerk der Sprache, immer auf der Suche nach historischen Gesteinsschichten und verborgenen Flözen, die Erkenntnisgewinn versprechen. Doch auch die Eigentumsfrage selbst wird dabei vielfach umbrochen. Das gibt schon das Goethe-Gedicht über das Eigentum vor, das Braun in den „Hellen Haufen“ zitiert hat und das er nun den „Werktagen“ als Motto voranstellt: „Ich weiß, dass mir nichts angehört / als der Gedanke, der ungestört / aus meiner Seele will fließen, / und jeder günstige Augenblick, / den mich ein liebendes Geschick / von Grund aus lässt genießen.“

Was an seinen Arbeitsbüchern fasziniert, sind weniger die historischen Details. Vieles von dem, was sich da ereignet, ist schon sehr weit in die Vergangenheit entrückt. Das Ost-West-Gezänk der Nachwendezeit, die Stasiakten und der Überwachungskomplex, die Einheitsstreitereien in der Akademie der Künste mit den Debatten um neue Präsidentschaften oder um die Publikation von Jünger-Tagebüchern in der Zeitschrift „Sinn und Form“ – man liest das im Abstand von zwei Jahrzehnten mit einiger Verwunderung und großer Gelassenheit. Der historische Stoff, der da noch ganz aufgewühlt erscheint, ist längst auf den Grund abgesunken. Wichtiger ist etwas anderes: zu beobachten, wie sich da ein wacher, intelligenter Zeitgenosse mit den Mitteln der Sprache ins Geschichtliche einzumischen versucht. Eigentlich, so notierte Braun im Januar 1990, war er geneigt, mit „alten chinesischen Schriften in den garten zu gehen“ und den Weg nach innen zu suchen. Doch dann kam ihm die Geschichte dazwischen, so wie sie ihm in seinem ganzen Dichterleben in der DDR und über die DDR hinaus immerzu dazwischen gekommen ist. Die chinesischen Schriften und der Weg nach innen sind zwar immer erkennbar, die Geschichte als Herausforderung bleibt aber auch.

Für den Marxisten ist einst der Glaube an die „gemachte geschichte“ bestimmend gewesen. Das hieß, Veränderungen für machbar und planbar zu halten, als wäre die Geschichte eine Manufaktur, in der der Einzelne bestimmte Produkte herstellen kann. Sie ist aber – und zu dieser Erkenntnis gelangt Braun allmählich – eine „verwickelte, chaotische fabrik und der ausstoß nicht vorhersehbar. die überbelastung der avantgarde: als ob sie wüsste, was vorn und hinten ist.“ Geschichte lässt sich also nicht länger als etwas Machbares begreifen, ja, schlimmer noch, es ist ganz und gar unmöglich, sie zu durchschauen. Denn das Bewusstsein, das sie durchdringen will, ist ja immer schon von der Geschichte durchdrungen, in der es sich bewegt. Von Hans-Georg Gadamer stammt der schöne Satz: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören der Geschichte.“ Das ist der radikale Gegensatz zum marxistischen Geschichtsoptimismus, der die Zukunft für machbar gehalten hat. In Brauns Arbeitsbüchern lässt sich miterleben, welche Mühe es einem Marxisten macht, diese Einsicht zu akzeptieren. Und er hat ja recht, sich dagegen zu wehren und weiter darauf zu beharren, dass die Dinge nicht ganz von selbst den Bach oder was auch immer hinuntergehen. Die Arbeit des Dichters besteht nicht zuletzt darin, so zu tun, als ob das Eingreifen und Verändern mit den Mitteln der Sprache möglich wäre. Sinn und Bedeutung sind Dinge, die jederzeit behauptet werden müssen.

Bei Volker Braun besteht eine Dauerspannung, ein permanentes Um- oder Überspringen von der Ebene der materiellen Arbeitskämpfe in den Bereich existentieller Fragen. Er dichtet: „was ist osten, was ist westen: / reden wir doch von regionen. / um beschenkt mit überresten / im besonderen zu wohnen“ – und transzendiert damit den doch eher dumpfen Ost-West-Konflikt. Mit dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben, bei dem Marx und Heidegger zusammenfließen, gelangt er schließlich zu einem Geschichtsverständnis, das zwar, mit Marx, das Glück des Einzelnen als Ziel anerkennt, dieses Glück aber gewissermaßen heiderggerianisch definiert: „Geschichte ist nämlich nicht, wie es die herrschende Ideologie gerne sieht, die Hingabe des Menschen an die lineare, kontinuierliche Zeit, sondern die Befreiung des Menschen von ihr: Die Zeit der Geschichte ist der Kairos, in dem der Mensch die günstige Gelegenheit im Moment freier Entscheidung ergreift. Der wahre historische Materialist ist nicht derjenige, der in der unendlichen linearen Zeit den schwachen Schein eines kontinuierlichen Fortschritts sucht, sondern derjenige, der jederzeit imstande ist, die Zeit im Eingedenken daran stillzustellen, dass die ursprüngliche Heimat des Menschen der Genuss ist.“ Wohlan: Auch so lässt sich Geschichte machen.

Genuss, im übrigen, ist eine Kategorie, die in Brauns Arbeitsbuch gründlich zur Geltung kommt. Feiern mit Freunden, gutes Essen und guter Wein, die Freude an der Natur und den Schönheiten der Welt, das Ergreifen von Liebesgelegenheiten: Braun hat viele Worte dafür. Freunde wie Wolfgang Fritz Haug, Christa Wolf oder Karl Mickel bekommen ihre Auftritte, seine Verleger Siegfried Unseld und Ulla Berkewicz übernehmen wichtige Rollen, Kollegen und Wegbegleiter wie Wolfgang Hilbig und Peter Rühmkorf werden gewürdigt. Das fortschreitende Alter führt naturgemäß dazu, dass immer mehr Nachrufe zu verfassen sind. Eindrucksvoll schildert Braun das Sterben von Rudolph Bahro und von Karl Mickel als Verlöschen und Eingang ins große Schweigen. Die „Werktage“ sind schonungslose Aufzeichnungen über das ganze Leben, das eben nicht nur die Seite der Produktion umfasst, sondern auch das Vergehen und das Vergessen. So wie jede große Dichtung.

Jörg Magenau, Süddeutsche Zeitung 23-05-2014

Bild: Volker Braun 2006 CC BY-SA 3.0

 

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Volker Braun:

Werktage 2 – Arbeitsbuch 1990 – 2008

Suhrkamp Verlag, Berlin 2014,

998 Seiten,

39,95 Euro

 

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