Der diskrete Charme der Onanie

Als Erbe des Chanson entstand in Frankreich vor 50 Jahren der Yé-yé-Pop. Heute erinnern die Lieder von France Gall, Jane Birkin, Françoise Hardy und Sylvie Vartan an den vergessenen Zusammenhang von Leichtigkeit und Freiheit.

Die ideologiekritische Maxime, es gebe nichts Harmloses mehr, wird von ihren Apologeten meist falsch verstanden: nicht als Denunziation einer verhärmten Wirklichkeit, die Lust nur als Genuss der eigenen und fremden Qual kennt, sondern als Aufforderung, schmallippig und gesinnungseifrig schon beim Frühstück den Verblendungszusammenhang zu kritisieren und bei keinem Picknick im Grünen zu vergessen, dass es ein richtiges Leben im falschen nicht gibt. Ihre Verächtlichmachung noch der kläglichen Reste des Lebendigen duldet ästhetische Erfahrung nur als negativistische Rosskur, Erkenntnis nur als Ergebnis heroischer Schwerdenkerei. Die Ahnung von einem Leben, in dem die Menschen sich all das schenken könnten, weil Freiheit kein Programm, sondern wirklich wäre, ist ihnen abhanden gekommen.

Besonders stark ist von der Verkümmerung des ästhetischen Sensoriums die Musik betroffen. Wer das Attribut Kritiker als Berufsbezeichnung führt, vermag jeden Hollywood-Film gegen europäische Kunstfilme zu verteidigen, bei populärer Musik hört der Sinn fürs Leichte auf. Der Kritiker will eben kein Feuilletonist sein, auch wenn dieser sich, was jenem noch gar nicht aufgefallen ist, längst genauso nennt. Von der Musik, die seit jeher als höchste Kunst gilt, verlangt er, dass sie ihn bitteschön ungemilderter Negativität aussetzen möge. Kommt sie mit politischen Botschaften an, findet er sie ärmlich, richtig wütend wird er aber erst, wenn sie unterhält.

Nun war Unterhaltungskunst nie nur Affirmation des Bestehenden, sondern stets auch das schlechte Gewissen der Hochkultur, die zur höchsten Form ästhetischer Erkenntnis nur um den Preis des gesellschaftlichen Privilegs werden konnte. Schon der Kritik der Kulturindustrie war Amusement nicht einfach ein Schimpfwort, sondern stand ein für jene freie Geselligkeit, um die die Spaltung der Kultursphären das zu Kunden entmündigte Publikum betrügt. Anschaulich wird das an einer Zäsur in der Geschichte der französischen Unterhaltungsmusik. Diese unterscheidet sich von der angloamerikanischen darin, dass sie sich an einem hochkulturellen Kanon zu messen hat, und von der deutschen, indem in ihr immer mal wieder der Zusammenklang von Lust und Geist gelingt. Mitte der sechziger Jahre war das Chanson, vormals bedeutendstes Genre musikalischer Unterhaltung in Frankreich, zur Hohlform geworden. Zwar entstanden immer noch Stücke von großer Eindringlichkeit (Charles Aznavours »Tu t’laisses aller«, auch in seiner deutschen Version, »Du lässt dich geh’n«, ist eines der wahrhaftigsten und erschütterndsten Liebeslieder, die je geschrieben wurden), ansonsten aber war das Chanson Inbegriff zur Hochkultur aufgemotzter Trivialkunst, die lyrischen Bombast mit einem schalen Emotionen- und Gestenrepertoire verband.

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Serge Gainsbourg (1981)

In dieser Zeit entstand, initiiert durch den vom Chanson kommenden Serge Gainsbourg, eine ihre Verdinglichung scheinbar leichterhand feiernde Musikform, die eine Reihe junger Sängerinnen – am prominentesten France Gall, Jane Birkin, Françoise Hardy und Sylvie Vartan – über mehr als ein Jahrzehnt populär machte. Im Mai 1964 wurde diese Musik vom amerikanischen Magazin Life, in Anlehnung an das »Yeah yeah« der Beatmusik, »Yé-yé-Pop« getauft. Das in den Augen republikanischer Kulturschützer Skandalöse dieser Musik war denn auch ihr Amerikanismus: die Verknappung der oft episch überladenen Chansonform auf höchstens drei Minuten, das unbekümmerte Verhältnis zur technischen Produziertheit der Musik, die flotte Versachlichung emotionalen Tiefsinns, der lässige Umgang mit kulturindustriellen Klischees. All das wurde als umso anstößiger empfunden, als es mit doppelbödigem Sprachwitz und einem das Beste des Chanson bewahrenden Sinn für intimen Ausdruck einherging. Indem er die von Pomp überfrachtete französische Populärmusik selbstironisch und anstrengungslos aufs Niveau der amerikanischen Unterhaltung brachte und offenbarte, wie altbacken und gefühlsschwiemelig die populären musikalischen Hervorbringungen der Kulturnation geworden waren, zog der Yé-yé-Pop Ressentiments gegen Oberflächlichkeit, Kommerz und Leichtlebigkeit auf sich.

Die Bedeutung, die der Sexus in ihr hat, würde dieser Musik heute, wäre sie bekannter, einen Ehrenplatz in der Feindesgalerie der Antisexisten sichern. Besonders France Gall, in deren Liedern Kindheit und Pubertät eine wichtige Bedeutung haben, könnte froh sein, nicht mit der Parole »Lolita go home« von der Bühne gejagt zu werden, die wiederum Titel eines Liedes ist, in dem Jane Birkin 1975 die Kränkungen einer als Flittchen diffamierten jungen Frau beschreibt, die wegen ihrer vermeintlichen Frühreife mit einer Mischung aus Neid und Verachtung bedacht wird. Bekannt geworden ist Gall 1965 mit dem von Gainsbourg geschriebenen »Poupée de cire, poupée de son«, in dem die Sängerin sich als Puppe aus Wachs und aus Klang beschreibt, deren Identität sich in den zirkulierenden Tonträgern materialisiert.

(Die deutsche Version des Liedes hieß übrigens »Das war eine schöne Party«: Die deutschen Varianten der Lieder des Yé-yé-Pop hatten, obgleich sie in der Schlagersparte, in der sie vermarktet wurden, einen Zivilisationssprung darstellten, mit den Originalen wenig gemein, erotische Nebenbedeutungen wurden hier konsequent getilgt.) In den folgenden Jahren sang Gall, meist zu Texten von Gainsbourg, aber auch von Philippe Labro, Pierre Saka und ihrem Vater Roger Gall, von Zweideutigkeiten unbekümmert, über Aspekte kindlicher und pubertärer weiblicher Sexualität. »Polichinelle« – das Wort bezeichnet eine Kasperlefigur, aber auch ein »offenes Geheimnis« – erzählt von einer Puppe, die sich, wenn das Mädchen allein ist, in ihrem Bett in einen Prinzen verwandelt, aber an den angestammten Platz zurückkehrt, sobald die Mutter das Zimmer betritt, eine offensichtliche Onaniemetapher; »Nounours« von libidinösen Regungen gegenüber einem Teddy, der zum besten Freund wird; »Les leçons particulières« vom Sprachunterricht als Ort erotischer Erfahrungen. Das Video zu »J’ai re­trouvé mon chien«, in dem ein Kind sich freut, seinen entlaufenen Hund wiedergefunden zu haben, zeigt Gall, wie sie alte Männer, darunter augenscheinlich ein Bettler und ein Pfarrer, wie eine Swinging-Sixties-Domina am Halsband führt. »Les sucettes« handelt von einem Mädchen, das für sein Leben gern Anislutscher schleckt. Im Video zum Lied tanzt eine Gruppe Männer mit Kondomen ähnelnden Riesenhüten auf dem Kopf zu süßlicher Wiegenliedmusik.

Schon die eher Monty Python evozierende Ikonographie zeigt, dass hier keine »männlichen« Projektionen bedient werden. Männer kommen in diesen Liedern eher als diffuse Randfiguren vor. Stehen sie mal im Mittelpunkt, eignet ihnen eher etwas Mädchenhaftes, wie dem Prinzen, der in Galls »Un prince charmant« als Verkörperung einer Kindheitssehnsucht erscheint, der kein Mensch gerecht wird, was das reale Leben aber nicht entwertet, sondern erst recht zum Abenteuer macht; oder dem hippiesken Sänger, der dem lyrischen Ich in »Les rubans et la fleur« von der Bedeutung seiner als Erinnerung vergangenen Glücks dienenden Sammlung bunter Bänder erzählt. In Galls »Nous ne sommes pas des anges«, ebenfalls von Gainsbourg geschrieben, figuriert die Mädchenwerdung der Männer und Jungenwerdung der Frauen, das offenherzige Eingeständnis der Fassadenhaftigkeit des erwachsenen Geschlechtscharakters, als Voraussetzung der Verwandlung der Erde ins Paradies.

Was diese Lieder in einer Zeit rigiden Kinderschutzes anstößiger als zu ihrer Entstehung macht, ist die von keinem schlechten Gewissen getrübte Leichtigkeit, mit der Objekte kindlicher Sexualität und Pubertätsphantasien als Steigerung der Lust an sich selbst präsentiert werden. Diese ist Voraussetzung der erfüllten Lust am anderen: Galls Lieder aus den sechziger Jahren über jugendliche Lieben erzählen von der Loslösung vom Elternhaus während der ersten Ferien ohne Mama und Papa (»Mes premières vraies vacances«); von der Erfahrung, einem Menschen, den man mag, in kleinen Marotten ähnlich zu werden und durch diese Selbstentrückung sich selber näher zu kommen (»On se ressemble toi et moi«); vom Zusammenhang von Liebe und Geheimnis (»Ne dis pas aux copains«); und von dem Abscheu vor Männern, die Frauen traurig sehen müssen, um freundlich zu ihnen sein zu können (»Faut-il que je t’aime«). Das alles, inklusive eines Trostliedes für den kleinen Sohn des ermordeten J. F. Kennedy (»Bonsoir John John«), mainstreamig, eingängig, eurozentrisch und heteronormativ, aber in der Vielzahl der entfalteten Impulse über das Affektrepertoire gewöhnlicher Unterhaltungsmusik weit hinausweisend.

Dass der Yé-yé-Pop als Ausdruck der sexuellen Revolution und der Geschlechteremanzipation verstanden wurde, muss man erst in Erinnerung rufen in Zeiten, in denen die Monogamie durch einen Polyamorie genannten Sexualverkehrsverbund und das Patriarchat durch kollektive Verwandlung von Männern und Frauen in konformierende Ekelpakete überwunden werden soll. Eine große Zahl der Lieder Galls, Birkins, Hardys und Vartans ist der Veralberung von Männern, vor allem in Gestalt des auf seine blühende Virilität stolzen Jungmannes, gewidmet. Mädchen entschuldigen unbotmäßiges Verhalten mit Hinweis auf die Verbote, die ihre Sehnsucht ersticken, sich zu vergnügen und die Welt zu entdecken, oder stellen sich vor, wie banal viele Jungen erschienen, würde den Mädchen alles gewährt, was diese dürfen (Galls »C’est pas facile d’être une fille« und »Si j’étais garçon«). Birkins »Si ça peut te consoler« verspottet die Larmoyanz des verlassenen Liebhabers, der sich in seinem Leiden unverwechselbar wähnt, und Hardy, die mit »Tous les garçons et les filles« einen traurig-schüchternen Vorläufer der »Pärchenlüge« von den Lassie Singers gesungen hat, erzählt in »Je ne suis là pour personne« von der Möglichkeit des Einklangs von Hingabe und Autonomie. Vartan lobt in »On a toutes besoin d’un homme« den praktischen Nutzen der Männer und regt in »M’amuser« ohne politische Absicht und nur aus frustrierender Alltagserfahrung heraus an, nicht auf den Partner zu warten, um sich zu amüsieren. Gall klagt in »Tu n’as pas le droit« und »Laisse tomber les filles« (zu letzterem gibt es ein Video von ihr als Biolehrerin, die einer Klasse die Beschaffenheit des Herzens erklärt) das Recht ein, in einer Welt, in der man ständig betrogen wird, auch selbst untreu zu sein.

Solche Aspekte des Yé-yé-Pop mögen heutigen Emanzipationsbeamten bestenfalls putzig erscheinen. Gar nicht gefallen dürfte ihnen die völlige Abwesenheit von Häme, Verachtung und verstockter Auftrumpferei in diesen Liedern, die so gar nicht in eine Gegenwart passen, in der der Kampf für Emanzipation von protestantischer Sauertöpfischkeit untrennbar scheint. Anachronistisch sind Gall, Birkin, Vartan und Hardy in all ihren Unterschieden – Birkin verkörpert eher die garçonne, die jungenhafte Frau, Gall das spitzbübische Schulmädchen, Hardy das Nesthäkchen, Vartan den Typus der kühlen Madame – insofern, als sie die Identifikation mit der eigenen Weiblichkeit, die Lust an weiblicher Mode und entsprechenden Formen des Selbstausdrucks, als Möglichkeit der Steigerung eigenen Selbstbewusstseins vorführen, das ohne Freude an sich selbst und die dadurch gesteigerte Freude anderer nicht entstehen kann. In »Comme un garçon« reklamiert Vartan für Frauen das Recht, ebenso viele Erfahrungen und Fehler wie Männer zu machen, nicht ohne das Glück zu preisen, von Männern als Frau geliebt zu werden. Hardy zeigt in »J’suis d’accord« die Geschlechterdifferenz und deren Rollenrepertoire nicht als Derivat von Herrschaft, sondern als Gesellschaftsspiel, das das Vergnügen aneinander zu steigern und den sozialen Zwang zu lockern vermag. In »Raccrochez, c’est une horreur«, das Birkin und Gainsbourg im Duett singen, wird gar dargestellt, wie die Telefonanrufe eines Unbekannten bei einer Frau nach wiederholtem Kontakt verführerische Faszination hervorrufen – wofür sie sich heute wohl als Verharmloser von Stalking verantworten müssten.


Françoise Hardy dans le film „Château en Suède“ (Roger Vadim, 1963). 
Chanson: „Je Suis D’Accord

In ihrem koketten Amoralismus, der Gegensätze nicht leugnet, sondern als Herausforderung in einem Spiel annimmt, das – Klugheit, Witz und Freundlichkeit der Beteiligten vorausgesetzt – auch gut ausgehen kann, und in ihrer Hinwendung zur Oberfläche des Alltags ähnelt diese Musik den zur gleichen Zeit ins Kino gekommenen Filmen Éric Rohmers, die in ihrem literarischen, von nuanciertem Ausdruck geprägten Gestus der Gegenentwurf zum pseudoavantgardistischen Guerilla-Kino Jean-Luc Godards sind. Wie Rohmers Kino lässt sich der Yé-yé-Pop nicht in die Entgegensetzung von Hoch- und Trivialkultur sperren: In seiner beiläufigen Kunstlosigkeit und der Einfachheit seines Formenrepertoires unterbietet er geltende ästhetischen Normen, im Spezifischen aber gelingen ihm Wendungen, die keine poésie pure erreicht, etwa wenn das Glück, ohne Angst seiner selbst inne zu werden, als der Augenblick beschrieben wird, in dem man sich die Vergangenheit ohne Wörterbuch übersetzen kann (»plus besoin de dictionnaire/pour traduire le passé«; »Les leçons particulières«), oder wenn von einem illusionslos liebevollen Menschen, einem »faiseur de plaisantristes«, gesagt wird, er brauche keinen Augenarzt, um die Scheiße der Welt zu sehen (»pas besoin d’oculiste/pour voir la merde du monde«; »L’aquoiboniste« von Jane Birkin). Wie ein solcher Blick gelingt, veranschaulicht diese Musik, die heute fast nur in verstreuten Kompilationen greifbar ist und durch ihre Verwandlung in Abhub der Geschichte ein vernichtendes Urteil über die Gegenwart fällt.

Magnus Klaue, Jungle World # 29 vom 17-07-2014

Bild: Serge Gainsbourg (1981); Serge Gainsbourg par Claude Truong-Ngoc 1981 CC BY-SA 3.0 Claude TRUONG-NGOC – Eigenes Werk

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