Selges Debütroman „Wach“ entführt den Leser in die nächtliche Großstadt

August Kreutzer kann nicht schlafen, denn er fürchtet sich davor, sein Bewusstsein abzugeben. Daher geht er mittlerweile nicht nur tagsüber, sondern vor allem nachts immer länger in der Großstadt spazieren. Ihn fasziniert vor allem das, was abseitig, randständig, düster oder skuril wirkt – vermutlich ein Ausgleich für die verlogene Glitzerwelt der Mall, in der er arbeitet. Der sechsunddreissigjährige, beruflich erfolgreiche August kreiert Einkaufserlebnisse; da geht es etwa darum, die Kunden für eine „zeitgemässe Besteck-Philosophie“ zu begeistern.

Albrecht Selge, Jahrgang 1975, hat in seinem Debütroman einen klassischen Helden neu inszeniert, den schlaflosen Flaneur. August ist ein sensibler Charakter, der teilweise so wirkt, als habe er sich ins 21. Jahrhundert verlaufen. Seine Kontakte beschränken sich fast nur auf gelegentliche Gespräche mit seinem Chef und mit der Crêpe-Verkäuferin Manja. Die Anrufe seiner Freundin nimmt er nicht mehr entgegen.

August ist zwar kulturkritisch gestimmt, aber er gesteht sich auch ein, dass er viele Phänomene des Zeitgeistes gar nicht begreift. Mitunter wirkt er leicht snobistisch, da beobachtet er etwa einen „nicht überempfindlichen Afrikaner“, der im Kellergeschoss der Mall Speisereste sortiert. Meistens aber hält er sich zurück; er lacht, weint und wütet nicht – er registriert nur, übermüdet und dabei überwach.

Ein schwer fassbarer, vielleicht indifferenter, vielleicht auch einfach vorsichtiger, zurückhaltender Charakter, der dabei minutiös eine typisch bunte, übervolle, oft schrille westeuropäische Stadt erkundet. Und als Leser staunt man über die zahllosen unscheinbaren Phänomene des stetigen Wandels einer Großstadt, die man selbst im Alltag oft weder sieht noch reflektiert.

„Stadt“ wird in der zeitgenössischen Literatur immer wieder neu vermessen, etwa unter gesellschaftspolitischem Blickwinkel, wie bei Ulrich Peltzer. Albrecht Selge interessiert sich vor allem für das Phänomen „Zeit“. August erblickt, wohin er sieht, Vergänglichkeit. Mietskasernen warten auf den Rückbau, ein Polizist erzählt ihm von dem Marienkäfer, der gelbe anstatt rote Flecken hatte und vielleicht also sehr alt geworden ist. In einer Kirche betrachtet er die Darstellung eines mittelalterlichen Totentanzes und draußen auf der Straße die Penner, die im Müll letzte Reste von Verwertbarem sammeln.

In einem Gedicht Friedrich Rückerts von 1821 heißt es: „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, und damit ist Augusts Lebensgefühl erfasst. Seine Melancholie wird aufgestört, als er feststellt, dass ein Unbekannter unter seinem Namen im Internet sexistische und rassistische Texte veröffentlicht. Aber der Fall klärt sich relativ unspektakulär – es geht hier einmal mehr darum, ein Zeitgeistphänomen, hier also den Verlust der Intimität zu zeigen.

Auf den letzten Seiten dieses stillen und wahrnehmungsgenauen Buchs gerät August in eine surreale Situation: Die Zeit bleibt stehen, als er einen Autounfall hat. Eine maskierte Frau will ihn mit sich ins Totenreich nehmen, und da endlich weiß der zögerliche, passive August, dass er im Leben doch noch so viel vorhatte. Offenbar ist der Verwaltung im Jenseits aber ein Fehler unterlaufen, ähnlich wie in Sartres Stück „Das Spiel ist aus“. August wird dem Leben zurückgegeben, die Zeit läuft wieder weiter.

Selges Roman beginnt mit dem Seufzer „ach“, und er schließt mit dem kindlich staunenden, versöhnten Satz, „ach, es ist alles schön“. Die Stadt und die Welt haben sich in dem Augenblick, als es für August um Leben und Tod ging, kaum verändert. Nur er selbst scheint verändert – mag sein, er kann sich jetzt als einen Teil der Welt sehen und nicht nur als ihren außenstehenden, traurigen Betrachter. Man ist dem Autor dankbar, dass er aus dieser möglichen Wandlung keine Saulus-Paulus-Geschichte macht, sondern sie nur andeutet. Und man versteht aus den letzten Seiten, dass ein „memento mori“ eben nicht nur als drohende Ermahnung gemeint ist, an die eigene Endlichkeit und Vergänglichkeit zu denken: Das memento mori ist auch der Rat, die Erscheinungen der eigenen Lebenszeit in ihren schillernden, mal scheußlichen und mal sehr schönen Ausprägungen zu achten.

Ein ungewöhnliches Debüt – hier interessiert sich ein Autor nicht für den eigenen Nabel, sondern für die vielfältigen Erscheinungsformen von „Welt“.

Sabine Peters

erschienen in Basler Zeitung 22.7.2011

Albrecht Selge: Wach
Roman, 256 S, Rowohlt Berlin, 19,95 Euro

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