Sie ist zurzeit der größte Star der Fotoszene. Und erst 36 Jahre alt. Das aktuelle Werk der New Yorkerin ist jetzt in London und Berlin zu sehen: gleichzeitig.

Taryn Simon ist der Star. Also der Star. Zu ihrer Vernissage in der Tate Modern kamen Steven Spielberg, Cameron Diaz und Gwyneth Paltrow (gut, Taryn Simon ist auch mit Gwyneth Paltrows jüngerem Bruder verheiratet, die beiden leben in Manhattan). Anfang September ist ihre Ausstellung in eine viermonatige Verlängerungskurve eingebogen, noch immer ist sie überlaufen. Und am letzten Wochenende wurde die identische Schau in der Neuen Nationalgalerie in Berlin eröffnet. London und Berlin laufen nun parallel bis Januar 2012, das ist frech, das gehört sich eigentlich nicht in der Kunstwelt, auch nicht in der Fotografie, die doch die Möglichkeit der Vervielfältigung immer schon in sich trägt. Es ist die Ungeniertheit einer Vielgefragten, die den Moment ganz für sich auszuschöpfen wagt.

Die in London ausgestellten Abzüge gehören natürlich nicht irgendwem, sondern Englands grösstem Fotografie-Sammler, nämlich Michael Wilson, und der ist wiederum der Bruder und engste Mitarbeiter von Barbara Broccoli. Gemeinsam produzieren die Geschwister die «Bond»-Filme. Und dann ist da auch noch Taryn Simons Galerie in New York, und die ist auch nicht irgendeine, sondern die gigantomane Gagosian Gallery, die Damien Hirst und den Nachlass von Andy Warhol vermarktet. Im nächsten Mai gehört Taryn Simon das New Yorker Moma, mehr kann eine Künstlerin nicht erreichen. Und dabei ist Taryn Simon erst 36 Jahre alt.

Excerpt from Chapter I5, A Living Man Declared Dead and Other Chapters / Courtesy Gagosian Gallery

Excerpt from Chapter I5, A Living Man Declared Dead and Other Chapters / Courtesy Gagosian Gallery

Blutlinien, Stammbäume

Aber was tut der viel zu schöne Star der Fotoszene, über den Salman Rushdie voller Pathos sagt: «Taryn Simon hat den Todesstern gesehen und lebt, um darüber zu berichten», denn nun eigentlich? Sie ist streng. Sie schafft Ordnung. Sie hat System. Und sie will wirklich was. «A Living Man Declared Dead and Other Chapters» heisst die aktuelle Arbeit, die London, Berlin und New York sehen wollen. In 18 Kapiteln werden «Bloodlines» aufgelistet, Blutlinien oder Stammbäume, jedes Kapitel gehört einem Clan oder einem Phänomen. In großen Rahmen hängen bis zu 40 Einzelporträts, immer vor dem gleichen neutral beigefarbenen Hintergrund aufgenommen, daneben eine Tafel mit der Geschichte der Porträts, rechts davon ein paar Zufallsbilder und Materialien aus dem Lebensumfeld der Stammbaumträger. «It’s very well organized!», staunt eine Besucherin, und dem kann man in der Tat nicht widersprechen.

Vier Jahre lang hat Taryn Simon auf der ganzen Welt nach Protagonisten für ihre Bloodlines gesucht und all ihre lebenden Blutsverwandten fotografiert, und wer sich weigerte, der wurde als leeres Blatt in den Rahmen gehängt. Am meisten leere Blätter gibt es im Fall von Hans Frank, einst Hitlers Rechtsberater und Generalgouverneur von Polen, in Nürnberg zum Tod verurteilt. Bei den Materialien hängt ein Brief vom 17. Februar 1944 und kündet von vollkommener Verblendung: «Im Juni sind es 25 Jahre», schrieb Frank damals, «seit ich den Führer kenne … Für mich ist die Rückschau auf die 25 Jahre dieses Werkes ein Rückblick auf eine der großartigsten Entwicklungsepochen unseres Volkes und heute auch der Weltgeschichte.» In der großen Systematik der Taryn Simon kann es fast kein Zufall sein, dass im Namen Frank auch gleich die andere Familie Frank anklingt, die von Anne Frank. Ein Täter verweist auf ein Opfer.

Lückenlos ist dagegen die Familie des chinesischen Beamten Su Qujian; alle 29 lebenden Familienmitglieder ließen sich willig porträtieren, schließlich ist das ihr Job. Sie wurden nämlich von der chinesischen Regierung als Vorzeigefamilie ausgewählt. Es gibt daneben den titelgebenden Inder, der eines Tages herausfand, dass er für tot erklärt worden war, oder die Familie einer Filipina, deren Vorfahren an der Weltausstellung von 1904 in einem künstlichen Dorf als Eingeborene vorgeführt und angewiesen wurden, pro Woche mindestens 20 Hunde vor Publikum zu verspeisen. Schließlich musste das Wilde in den «Wilden» irgendwie inszeniert werden.

Excerpt from Chapter VI, A Living Man Declared Dead and Other Chapters / Courtesy Gagosian Gallery

Excerpt from Chapter VI, A Living Man Declared Dead and Other Chapters / Courtesy Gagosian Gallery

Excerpt from Chapter I, A Living Man Declared Dead and Other Chapters / Courtesy Gagosian Gallery

Excerpt from Chapter I, A Living Man Declared Dead and Other Chapters / Courtesy Gagosian Gallery

Hasen, Waisen, Weltkunst

Und plötzlich hängen da 120 Kinder aus einem ukrainischen Waisenhaus, nach Alter geordnet, 120 Menschen, die jegliche Bloodline verloren haben, die dastehen in einer sehr frustrierend anzuschauenden Gegenwart, nur für sich selbst, mit einer ungewissen Zukunft. Oder die 108 australischen Hasen, aus drei Hasen-Bloodlines, alle mit einem tödlichen Virus infiziert, weil Hasen in Australien als schlimme Schädlinge gelten. Drei Bloodlines also, die kurz vor der Auslöschung stehen, die einfach abbrechen werden. Die Hasen stehen in Glasbehältern auf einem Podest, von weitem ist da eine beruhigende optische Gleichschaltung, von nahem wird jeder zum Individuum mit Pose und Ausdruck. Die Würde des todgeweihten Tiers.

Installationsansichten / Foto: David von Becker

Installationsansichten / Foto: David von Becker

Selten erlebt man in der Kunst die Sicherheit, etwas wirklich Neues zu sehen

Und so überziehen die Porträttafeln von Taryn Simon die Wände im vierten Stock der Tate Modern wie ein sehr eigenwilliges, verblüffend klares und ungeheuer selbstbewusstes Periodensystem, in dem Fotografie und Texte genauso wenig wie die abgebildeten Menschen als Einzelnes spektakulär sind. Im Zusammenwirken aber schon: Es ist erstaunlich, wie viel Zeit man gebannt an den 18 Stationen verbringt. Selten hat man eine Ausstellung mit mehr Informationen verlassen. Präzise Bild- und Text-Informationen über 18 verschiedene Geschichten in 18 verschiedenen Kontexten auf der ganzen Welt.

Das heißt, die ganze Welt außer Nordamerika. Dem hat sie sich in früheren Arbeiten ausschließlich gewidmet. In «An American Index of the Hidden and Unfamiliar» fotografierte sie Amerikas versteckte Orte. Setzte sich gefährlich blau vor sich hin strahlenden atomaren Abfällen aus, besuchte die steril wirkende Kunstsammlung des CIA, zeigte einen Holzkäfig in einem Gefängnishof, in dem sich zum Tod Verurteilte im Freien aufhalten können.

Aber jetzt zählen alle anderen Kontinente. Denn Taryn Simon will wirklich etwas. Sie will die Welt in all ihrer Komplexität begreifbar machen. Sie macht Weltkunst. Und die ist spektakulär. Weil die Welt darin genauso viel Wert hat wie die Kunst. Weil hier Menschen, von denen die meisten in undemokratischen Verhältnissen leben und nur wenige diese mitgestalten, in einer demokratischen Präsentation zu Gesichtern und Geschichten finden. «In einer Zeit, in der so viele Menschen so große Anstrengungen unternehmen, die Wahrheit vor den großen Massen zu verschleiern», schreibt Salman Rushdie, «ist eine Künstlerin wie Taryn Simon eine unschätzbare Gegenkraft. Demokratie braucht Sichtbarkeit, Verantwortlichkeit, Licht.»Selten erlebt man in der Kunst die Sicherheit, etwas wirklich Neues zu sehen. Taryn Simon sieht die Welt neu. Und wir mit ihr.

AUSSTELLUNGEN:

Taryn Simon in London: Tate Modern, bis 2. Januar 2012

In Berlin: Neue Nationalgalerie, bis 1. Januar 2012

www.tarynsimon.com

Bilder: Installationsansicht, Foto: David von Becker | Werkdetails: Courtesy Gagosian Gallery