Tideland

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Wahrscheinlich hat alles mit Huckleberry Finn angefangen. Ich meine, Rock’n’Roll, das ist die Musik, die entstand als Huck und Nigger Jim, der weiße Junge und der entlaufene Sklave, den Mississippi runter fuhren. Und sogar, wenn sie zusammen alt wurden, und wenn aus dem Rock’n’Roll alles mögliche, elektronisch oder handgemacht, geworden ist, so blieb es doch die gemeinsame Musik des weißen Jungen, der vielleicht ein großes abenteuerliches Herz hatte, aber auch immer der ignorante, anmaßende Kerl blieb, und des schwarzen Mannes, der, zu was immer er es auch brachte, die Sklavenzeit nie vergessen konnte.

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Huck Finn und Nigger Jim, sowie ein paar andere beschränkte Menschen, Tom Sawyer oder Rebecca Thatcher zum Beispiel, waren von einem Kerl erfunden worden, der sich Mark Twain nannte. Vor ein paar Jahren starb in einem Ort namens Finn ein uralter Mann, der von sich behauptete, der größte Lügner weit und breit zu sein, und als das lebende Vorbild für Huckleberry Finn gedient zu haben. Eines von beidem ist wahrscheinlich nicht wahr.

Mark Twain war ein Schriftsteller, der ein paar sehr komische Bücher geschrieben hat. (Warum zum Teufel er ausgerechnet die Indianer hasste, konnten die Tom Sawyers auf unserer Seite des großen Teichs weder verstehen noch verzeihen.) Bei „Tom Sawyer“ und „Huckleberry Finn“ war er nicht sicher, für wen er die Bücher eigentlich geschrieben hatte. Mal erklärte er, „ein für allemal“, das seien keine „Jugendbücher“, und überhaupt hasse er Jugendbücher, und vielleicht war er ja auch im richtigen Leben nicht so kinderlieb, wie sich Pädagogen das gern für Verfasser von „Jugendbüchern“ wünschen. (Auch für Michael Ende waren Kinder die reine Pest.) Aber sein Verleger überzeugte Mark Twain dann doch, die beiden Romane eben genau als „Jugendbücher“ zu verkaufen. Man musste dazu, meinte er, nur ein paar deftige Flüche und ein paar unheimliche Begegnungen rauslassen. Also, für den Verkaufserfolg war das gut, für Mark Twains schriftstellerischen Seelenfrieden nicht so sehr.

Die Literaturwissenschaftler erfanden für „Huckleberry Finn“ später den Begriff der „doppelten Adressierung“. Das wäre ein Text, der einerseits sowohl von einem Kind als auch von einem Erwachsenen gelesen werden könnte, und beide hätten ihren Spaß, wenn auch nicht unbedingt den gleichen. Heutzutage nennt man so etwas „Family Entertainment“ und macht eine Menge Geld damit. Andrerseits aber wird es kompliziert, weil so ein Text auch die erwachsene Erinnerung an die Kindheit, und einen kindlichen Vorgriff auf Erwachsenes beinhaltet. „Wenn der Leser jemals ein Jung war…“, so fängt Mark Twain das Erzählen an. Ein Jahrhundert später erklärt eine gewisse Astrid Lindgren, sie hätte ihre Bücher nie für jemand anderen geschrieben, als für „das Kind in mir“.

Aus der doppelten Adressierung wird, wenn ich mal so hochtrabend sein darf, ein „doppelte Codierung“. Und das ist die Grundlage von allem, was ernsthaft Pop genannt werden darf. So wie die Musik, die Huck Finn und Nigger Jim zusammen machen, immer zugleich wunderbare Einheit ist und nicht endgültig zusammen passt (Paul Schrader wollte wohl in dem Film „Crossroads“ mal darüber nachdenken, aber aus verschiedenen Gründen ist der damit nicht weit gekommen), so ist Pop etwas von und für ein Kind, das schon mehr sehen und erleben muss, darf und kann als es „Musterknaben“ wie Sid tun, und etwas von und für einen Erwachsenen, der aus irgend einem Grund auf der Flucht ist und weniger weiß aber mehr sieht als es sich Sonntagsschullehrer und Witwen, die einen siwilisieren wollen, zu träumen wagen.

„Einer der wirksamsten Verfremdungen von Öffentlichkeit“, schreiben Alexander Kluge und Oskar Negt, „ist das Hereinbrechen von Kindern“. Früher hat man sie daher, mit Gewalt und bösen Worten, von der Öffentlichkeit fernzuhalten versucht. Amerika war, unter anderem, die schiere Verheißung, weil man da die Kinder in die Öffentlichkeit ließ, weil man hier weder die mehr oder weniger bürgerlichen Tom Sawyers noch die mehr oder weniger proletarischen Huckleberry Finns wirklich siwilisieren konnte. Amerika ist ein Kinderland, nicht so, wie man es sich als Paradies vorstellt vielleicht, genauer gesagt ist es die pure Hölle. Aber Kindheit wurde hier auf neue Art erzählbar, doppelt codiert, wie gesagt, und nicht nur Pop, sondern auch „die große amerikanische Erzählung“ und dann „der große amerikanische Film“ ist ein Kreisen um die beiden Pole, der Junge, der nie erwachsen werden kann, und der Erwachsene, der die Kindheit sucht, um die er betrogen wurde.

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Nun sagt man, unsere Gesellschaft wäre gerade dabei, sich zu „infantilisieren“. Man meint wohl damit, dass einerseits die Unterhaltung – Haben Sie gestern in den Fernseher geschaut? Die BILD gelesen? Sind Sie in der „Mehrzweckhalle“ gewesen? –  auf eine reichlich militante Weise „kindisch“ wird. Man kann sich vorstellen, was eine Gesellschaft von der Kindheit hält, wenn sie ihre eigene Verblödung „infantilisieren“ nennt. Andrerseits soll das „Infantilisierte“ wohl die Unfähigkeit gewisser Leute beschreiben, auf ordentliche Weise erwachsen zu werden. Das heißt Arbeiten, sich eine Wohnung suchen, Kinder kriegen und dafür sorgen, dass die auf ordentliche Weise ihrerseits erwachsen und siwilisiert werden.

Vielleicht aber ist das Mythem von der „infantilisierten Gesellschaft“ nichts anderes als die postmoderne und medialisierte Variante des Versuchs, die Kinder mit Gewalt und bösen Worten aus der Öffentlichkeit fernzuhalten. Wer weiß.

Jedenfalls scheinen sich „Kindheit“ und „Erwachsensein“ zunehmend ineinander aufzulösen, nicht so sehr, weil die Kinder den öffentlichen Raum gestürmt hätten, sondern weil die Erwachsenen die Kinderzimmer stürmten, um sich vor den Monstren der Wirklichkeit zu verstecken; manche von ihnen wollten den Kids die Security Blankets klauen und fanden doch nur „Castle Wolfenstein“. Nur Pop blieb, bis zu einem gewissen Grad, dieses tröstliche Huck Finn/Nigger Jim-Bild. Unterwegs. Auf dem Fluss und an seinen Ufern.

Ganz anders verhält es sich mit Alice. Sie stürzt in ihren eigenen Traum von der Erwachsenenwelt. Voller absurder Autoritäten, dogmatischer Akklamationen, Verstellungen. Wenn Huck und Jim, beide mit limitierten Fähigkeiten, nach der Sprache greifen, dann wird sie Alice heimtückisch entzogen. Schließlich hat ja alles damit begonnen, dass sie sich über ein Buch ohne Bilder beschwerte. Das hat sie nun davon. Die Sprache schlägt als Bild zurück. Und wenn Huck und Jim Irgendwohin kommen wollen, dann steckt Alice im Nirgendwo. Und außerdem ist Alice allein. Nein, das heißt, allein ist sie nie, aber einsam wohl.

Andrerseits kann sie ins wirkliche Leben, ins oberirdische England zurückkehren, wenn sie nur erkennt, was ein Trugbild ist: „Ihr seid doch nur ein Kartenspiel“, mit dieser Erkenntnis ist der Wahn des Wunderlands besiegt (nicht dass man die Faszination dafür gänzlich verlieren könnte). Huck Finn dagegen nutzt es erst mal wenig, einen falschen König zu durchschauen, im Gegenteil: Ein durchschauter Erwachsener wird erst richtig böse.

Huck, Jim und Tom einerseits und Alice, das weiße Kaninchen und der verrückte Hutmacher andrerseits werden sich nie begegnen. Aus dem einen wurde vielleicht Politik, aus dem anderen vielleicht Kunst. Vor allem wurde beides ab da heftig übermalt. Tom Sawyer zum Beispiel, der übrigens schon bei Mark Twain eine Fortsetzungsgeschichte unter dem Titel „Tom Sawyer, Detective“ bekam (die hierzulande kaum einer kennt), verwandelte sich in die endlose Wiederkehr des jugendlichen „Kriminalisten“, der seinen Streifzügen durch die Erwachsenenwelt eine dezidiert moralische  Pointe zu geben versuchte, und aus Alice wurde Dorothy, die den „Zauberer von Oz“ entlarvte, oder die Traummaschine oder den Kapitalismus, wie man es nimmt, und doch nichts anderes fand als in Kansas zu bleiben. Bei Onkel und Tante.

Traumkinder haben ja keine Eltern (mehr). Das ist ihr eigentliches Wesen, von Oliver Twist bis Harry Potter, von Tick, Trick und Track bis zu den Lost Boys in Neverland. Das macht sie schutzlos, und deshalb werden sie ausgebeutet wie in der „Stadt der verlorenen Kinder“, wo man ihre Tränen sammelt, und deshalb sind sie so stark. Wenn sie dann die Liebe entdecken, kann es sein, dass sie ihren Schatten verlieren, das heißt, dass sie zu Vampiren oder anderen Untoten werden. (Und was ist Freddy Krueger anderes als das Schuld-Gespenst der Erwachsenen, die ihre Kinder nicht beschützen und sie auch nicht loslassen konnten?) Die Tragödie und die Groteske von Hucks und Alices vorletzten Nachfahren, Eminem oder Madonna, liegt darin, dass nun wiederum sie ihre Eltern nicht ganz und gar loslassen können.

Nein, Alice ist natürlich auch nichts anderes als ein Trick, eine Maske der Kindlichkeit, mit der sich ein mathematischer Pedant und Sonderling namens Dodgson alias Lewis Carrol vor dem Chaos schützte, das er zugleich fürchtete und ersehnte. Und da sind sich Huck und Alice doch wieder verwandt: Sie sind beide einer Welt ausgesetzt, an der jeder Erwachsene verzweifeln müsste. Die Geste ihrer Kindlichkeit ist genau so wenig echt wie der Zauberer von Oz, und hast du nicht gesehen ist aus Tom ein Gangster und aus Alice eine Lolita geworden (und aus der wird womöglich eine Fernsehmoderatorin). Und noch einmal alles herumgedreht: Ist Alice mit ihrem Realitäts- und Gerechtigkeitssinn nicht der einzige Erwachsene unter lauter polymorph-perversen Kindwesen, die sich Sprache und Insignien der Erwachsenen zu bösem Spiel gestohlen haben? Wenn Kinder einen mehr oder weniger öffentlichen Raum stürmen, dann kommt als „Verfremdung“ vermutlich so etwas wie das Wunderland heraus.

Da kommt etwas, aus der unerfüllten und der beschädigten Kindheit, viel mehr lässt sich zuerst einmal gar nicht sagen (nicht einmal, ob es so etwas in echt gibt, eine erfüllte und unbeschädigte Kindheit). Es ist ja auch ein merkwürdiges Passepartout geworden, dies und jenes aus einer verletzten Kindheit zu erklären, nur die verletzte Kindheit zu erklären, das fällt uns schwer. In meiner Stadt, erfahre ich eben, haben sich dieses Jahr so wenig Erwachsene gegenseitig umgebracht wie nie zuvor, zur gleichen Zeit haben sich die Gewalttaten gegen Kinder verdoppelt.

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Also schreiben wir eine Filmgeschichte der doppelten Adressierungen, der doppelten Codierungen, der gespalten Kinder-Erwachsenen und Erwachsenen-Kinder. Das beginnt natürlich mit den Slapstick-Komikern; von Chaplin über Laurel & Hardy und die Marx Brothers zu Jerry Lewis: Das sind Wesen, die ewig Kinder bleiben und nie Kinder gewesen sind.

So wie Huck und Alice Kinder-Stellvertreter für Erwachsene waren, wurden Charlie, Laurel & Hardy und all die anderen Erwachsenen-Stellvertreter für Kinder. Und Cowboys und Monster sowieso. Dracula war schon immer ein Teenager, da brauche ich keine Bisse zum Morgengrauen.

Darum hassen wir unsere „Comedians“ (ohne von ihnen lassen zu können). Es sind weder Kinder noch Erwachsene, sondern einfach nur reaktionäre Idioten, die sich auf die kürzeste Weise mit anderen reaktionären Idioten kurzschließen. Es sind Menschen, die sich über das Kind im Erwachsenen lustig machen, und über den Erwachsenen im Kind. Sie stellen, auf die blödeste Weise, die Ordnung wieder her, und selbst ein Mr. Bean, den man natürlich lieben muss, spielt viel zu auffällig den Zwölfjährigen in Erwachsenenkleidung und im Erwachsenenkörper, als dass wir ernsthaft (komisch) eintauchen könnten in die Dialektik der „Lebensabschnitte“.

4

Viele Filmemacherinnen und Filmemacher  berichten aus einer, und vor allem aus ihrer beschädigten Kindheit. Manche tun das ganz offen wie, sagen wir, Alfred Hitchcock und Francois Truffaut. Manche sprechen darüber, andere nicht. Auch das wäre eine Filmgeschichte: Das Kino als magischer Raum für beschädigte Kindheit. Immer beides zugleich: die Erinnerung daran und die Verdrängung.

Zu so etwas wie einem Genre wurden Filme, die nicht nur über beschädigte Kindheiten erzählten, sondern aus ihnen indes erst in den neunziger Jahren. Ein Schlüssel dafür war wohl Philip Ridleys „Reflecting Skin“ (Schrei in der Stille – 1990), ein englisch-kanadischer Film, der ins allertiefste Amerika, in die Weizenfelder und Landstraßen von Idaho, kurz nach dem Koreakrieg führt. Der neunjährige Seth glaubt die Geschichten, die sein sanfter und verzweifelter Vater erzählt, zum Beispiel die von den Vampiren. Seth ist sicher, dass die schöne Witwe Dolphin Blue im Nachbarhaus eine von ihnen ist; eindringlich und vergebens warnt er seinen Bruder, der als Soldat in Korea war. Das Böse aber ist auf eine ganz andere Weise in der Welt, und es fährt im Auto und hat es auf Kinder abgesehen. Und wie bei Todd Solondz haben die Erwachsenen auch hier keineswegs so ihre „sexuelle Identität“ gefunden, wie es der kontrollierte Ödipalismus gern hätte.

Kathryn Bigelows „Near Dark“ (1987) hatte schon ähnlich schaurig-schön aus einer endenden Provinz-Kindheit und von Hippie-Vampiren erzählt, die eine Alternative zum Lebenssterben als „Normale Individuen“ anbieten (ein Sterbensleben, das hat auch so seine Nachteile); die „Lost Boys“ (aus dem selben Jahr) sind schon eine Matrix für die phantastischen Verkleidungen der zerbrechenden Familienromane und, weil der Film obendrein von Joel Schumacher ist, auch eine kräftige Moral. Die Voraussetzung ist die immer gleiche: Lucy Emerson, gerade von ihrem Mann geschieden, kommt mit ihren beiden Söhnen Michael und Sam, um beim Großvater ein neues Leben zu beginnen. Und als Michael die schöne Star kennen lernt und mit ihrer Clique herumzieht, verliert er seine Seele und wird vampirisiert und blutsüchtig. Sein Bruder Sam dagegen findet Anschluss an eine andere Gruppe, die von sich behauptet, Vampirjäger zu sein. Das gibt Konflikte, und am Ende stellt sich heraus, dass der Anführer der Vampire niemand anders sein kann als der neue Mann in Mommies Bett, der vom Großvater fachgerecht gepfählt werden muss. Stephanie Meyers „Biss“-Romane und ihre Verfilmungen sind, was Filme wie diese betrifft, nicht nur ideologisch ein Rückschritt. Sie gehören zu den vielen Kulturwaren derzeit, die sich mehr oder weniger erfolgreich darum bemühen, das Teenager-Sein selbst als Traumreich zu rekonstruieren.

Die nackten Kindheiten erzählen die französischen Filmemacher von Francois Truffaut über Maurice Pialat bis Claude Miller eher aus einem realistisch-biographischen Impuls heraus, als eine Art Erinnerungs- und Trauerarbeit; in der verschachtelten Erzählung von Claude Millers „Ein Geheimnis“ indes ist eine trostarme Kindheit in den fünfziger Jahren der Schlüssel für eine Geschichte über die Verfolgung der Juden, über Kollaboration und Holocaust, und dies zeigt, was sich wirklich ändert: Erwachsenengeschichten und Kindergeschichten treten in einen neuen Dialog miteinander, sie adressieren sich gewissermaßen gegenseitig.

Wahrscheinlich gibt es Schauspieler, die wie geschaffen sind für doppelte Adressierungen, Menschen, die das Kind im Erwachsenen und den Erwachsenen im Kind zu einer träumerischen Distanz zur Welt der anderen benutzen. Das ganze Brat Pack, so unterschiedlich sich die einzelnen Schauspieler auch entwickeln sollten vielleicht; Jake Gyllenhaal ist so einer, und auch Tobey McGuire ist als „Spiderman“ nicht nur ein Kind, das träumt ein Superheld zu sein (und ein Superheld, der träumt, im anderen Leben ein Kind zu sein), sondern ein Mensch, der sich auf die lineare Biographie nicht mehr verlassen kann. Auch Johnny Depp ist so ein „ewiges Kind“ (und einer ohne Kindheit). Und einer, der nie ganz in dieser Welt angekommen ist.

Die „beschädigte Kindheit“ ist vielleicht das einzige ernsthafte Thema, zu dem wir uns augenblicklich vorbehaltlos verständigen können, und Filme, Literatur und sogar Comics handeln so angelegentlich (und immer wieder: doppelt addressiert, verflochten), als wäre all das, die zerbrechenden Familien, sozialer Abstieg, sexueller Missbrauch, emotionale Erkältung, die Mischung aus Bigotterie, Gleichgültigkeit und Gier, die Erwachsenenmacht ohne Autorität und Geborgenheit, der Schlüssel zum Gefühlselend des Neoliberalismus. Wir sind auf Seiten der Kinder, ja, aber von denen bleiben nur Traumspuren. Goscinnys und Sempés Geschichten vom „Petit Nicolas“ (dem kleinen Nick, wie er auf deutsch heißt), waren perfekte Etüden in listiger Doppeladressierungen: Ein Kind spricht, zugleich komisch begrenzt und komisch befreit, über denkleinbürgerlichen Alltag, den Unfug der Erziehung und das Erlernen von Interesse. Im Kino dagegen wird daraus ein nostalgischer Blick in eine Zeit, wo es Kindheit vielleicht noch gegeben hat und wo sie jedenfalls ohne weiteres an Kleidung und Sprache zu erkennen war. Und eher diese Sehnsucht nach einer vergangenen echten Kindheit treibt das Publikum in die Kinos, als müsste hier auch noch die Welle der Filme aus der beschädigten Kindheit geglättet werden. Selbst  Frank McCourts „Die Asche meiner Mutter“, so grausam-komisch einzelne Episoden auch sein mögen, kommt im Kino schon als Trost-Angebot an. „Schlimmer als die normale unglückliche Kindheit ist die unglückliche irische Kindheit“, schrieb McCourt, „und noch schlimmer ist die unglückliche irische katholische Kindheit“. Oder die Kindheit eines Mädchens, dessen Vater als Alkoholwrack aus dem Gefängnis kommt, in Dennis Hoppers „Out of the Blue“, und bis hin zur Stieg Larsson-Verfilmung „Verblendung“ (2009), Filme, in denen die terrorisierten und missbrauchten Kinder wenigstens zurückschlagen.

Mit „Mala Education“ kehrte auch Pedro Almodovar in seine beschädigte Kindheit zurück, der sexuelle Missbrauch, in anderen Filmen angedeutet wird nun zum zentralen Thema. Peter Mullens Film „Die unbarmherzigen Schwestern“ führt in die Erziehungshölle Irlands. Und Michael Hanekes „Das weiße Band“ schließlich deutet eine Umkehrung an, die wir ansonsten, mit wechselhafter gesellschaftlicher Zustimmung, nur im Horrorfilm finden, „Zurückschlagen“ oder „Rache nehmen“ sind nicht ganz die richtigen Ausdrücke dafür; es geht hier nicht um die Einzelnen, es geht um Kindheit an sich, es geht darum, dass der Bruch zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenwelt durch „Kultur“ und Phantasie (und Verhandlung) nicht mehr zu kitten ist. In der realistischen Schreibweise erzählt das Kino dann von „kleinen Dieben“, und im deutschen Fernsehen wird ein „Problem-‚Tatort’“ daraus. Aber nach einem Jahrzehnt der Filme über beschädigte Kindheit, für die Haneke vielleicht den konsequentesten Abschluss gefunden hat, auch und gerade, weil er damit in die Vergangenheit geht, wissen wir: Es ist aus.

Die großen Filme (und jede Menge nicht so großer) über die beschädigte Kindheit haben einen kulturellen Pakt gebrochen: Die Kinder als Zukunft einer Gesellschaft, die Kindheit als Mythenreservoir, die ständige Rückbindung an „Unschuld“ und eben der „Sinn“ des Erwachsenenlebens, wiederum diese Unschuld, Zukunft und Mythos zu beschützen. „Ist es leicht, jung zu sein?“ fragte ein bitterer russischer Film vor zwanzig Jahren. So etwas ist kaum noch die Frage. Die Frage ist: kann man es überleben. Und hey, alles was wir haben, die Kraft, die Phantasie, die Skepsis, das kommt vom Überleben der Kindheit.

Mindestens drei Filmen ist es in letzter Zeit gelungen, für wechselnde Besuchergruppen, das Überspringen von „beschädigte Kindheit“ in großartige „Traumwelten“ zu zelebrieren, was im übrigen immer auch ein Sprung vom Literarischen ins Malerische

ist (eine Art, das Kino zu sprengen, also): „Pan’s Labyrinth“ (2006) von Guillermo del Toro erzählt von der Tochter der Frau, die einen francistischen Faschisten im Bürgerkrieg geheiratet hat und vor ihm in die finstere Welt der melancholischen Monstren flieht; „Tideland“ (2005), Terry Gilliams bei weitem schönster Film, erzählt von dem Mädchen in der tiefsten amerikanischen Provinz, dessen Vater sich den goldenen Schuss gesetzt hat und tot und verwesend im Schaukelstuhl sitzt, während sie ihr Traumreich um ihn herum errichtet, und in Tarsems Singhs „The Fall“ (2006) kämpfen ein sterbender Mann und ein Mädchen um eine Traum- und Erlösungsgeschichte. Die wahren Monster, nicht nur in diesen Filmen, sind die Erwachsenen, die normalen Individuen, die die sogenannte Wirklichkeit füllen (wenn es keine Zombies sind). Und nur das Traumreich (Kino) schützt den Rest der bedrängten Kindheit (und wird auch wieder das Gefängnis, dem man entkommen muss).

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Der bürgerliche Mythos der Kindheit hat sich erledigt, auch wenn man es weder im Fernsehen noch in der Schule sehen will. Er glüht ja auch gebührend nach, in der Werbung zum Beispiel, in der Architektur eines „Einfamilienhauses“. Aber deswegen ist die Kindheit so wenig verschwunden wie der Rock’n’Roll. Sie ist nur nicht mehr genau dort, wo die alte soziale Ordnung (erinnern Sie sich noch?) sie haben will. Die doppelte Adressierung ist gewissermaßen zur kulturellen Praxis geworden; die zwei Adressen befinden sich im gleichen Haus.

Drei neue Filme, mit fantastischer Tönung allesamt, benutzen und reflektieren derzeit die Technik der „doppelten Adressierung“, füllen die Nachmittagsveranstaltungen im Cineplex und behaupten, durchaus auch was für die Nachtvorstellung parat zu haben.

Tim Burton macht sich an „Alice“, und das heißt vor allem, er macht sich an Bilder; Spike Jonze hat Maurice Sendaks Bilderbuch „Wo die Wilden Kerle wohnen“ neu gelesen, und Wes Anderson spinnt mithilfe von Roald Dahl und der Stop Motion-Technik seine Legenden von dysfunktionalen Familien weiter.

Spike Jonze hat bei der Verfilmung von Sendaks Buch, genau wie übrigens Burton, betont, dass er nicht unbedingt an einen Kinderfilm dabei dachte. Zuerst einmal benutzt auch er die „Zerbrochene Familie“-Voraussetzung des „Beschädigte Kindheit“-Films: Und Jonze lässt seinen Film mit einem Text in „Kinderschrift“ beginnen. Der kleine Max rebelliert gegen seine Mutter, als diese einen neuen Freund nach Haus mit bringt, und in seiner hibbeligen Art flüchtet er in die Phantasiewelt, eben dort hin, wo die Wilden Kerle sind. Die sind aber weniger wild als vielmehr traurig. So reicht der Zorn von Max aus, dass er gleich zum König der Wilden Kerle wird. Das ist vertrackt, denn damit hat man ganz schön was auf sich geladen. Die Rückkehr zur Mutter ist noch einmal unabdingbar. Aber was hat Max in der Welt der Wilden Kerle gesehen? Er hat einen Blick in den Verfall getan, sein Trip ist aber auch ein erschrecktes Gewahrwerden des post-industriellen Kapitalismus, so dass es gar nicht anders sein kann, als dass es auch ein Kaputtmach-Film wird. Der Trost, der in Maurice Sendaks letzten Worten liegt („and it was still hot“), entzieht sich; denn Max ist ja ein „Erlöser“ für die „wilden Kerle“, die allesamt gekränkte Narzissten, scheinen, die um Macht aber eben nicht Autorität streiten, ganz buchstäblich zerfallen diese wilden Kerle. Was bei Sendak wilder Auf- und Ausbruch war, das ist bei Jonze auch schon melancholische Rückkehr. Die Frage ist, ob die Kinder diese „Erwachsenen“ noch retten können, mehr noch, ob es sich lohnt, dies zu wollen. So erklärt sich die „Hyperaktivität“ noch einmal, das World Building, der Fantasy Trip. Und Max dreht den Entlarvungs-Illusionismus von „The Wizard of Oz“ auf den Kopf (oder auf die Beine, wie man es nimmt): Er muss zaubern lernen, um die Mutter aus der Gefangenschaft und der Depression zu führen. Aber diese Beziehung ist eben nur vorstellbar als endlos geflochtenes Band.

Wes Anderson, der in Filmen wie „The Royal Tennenbaums“ der dysfunktionalen Familie schon einen Dekonstruktionsspaß abrang, und der das „World Building“, ohnehin dem Filmemachen verwandt genug, gerne auf die Spitze treibt, etwa wenn er für „Darjeeling Limited“ für seine Figuren ein eigenes Reisegepäck mit kleinen Tierfiguren entwerfen ließ, von seinem Bruder übrigens („das Gepäck war enorm wichtig, denn es repräsentiert den toten Vater“).

Auch „Fantastic Mr. Fox“ ist die filmische Relektüre eines Kinderbuchs (von Roald Dahl), und auch hier ist es wichtig, dass man nicht die überwältigende digitale Technik verwendet, sondern das altehrwürdige Stop Motion-Verfahren, so wie man in den „Wilden Kerlen“ die Monster als Menschen in Kostümen wahrnehmen darf, ohne dabei etwas wie eine „Enttäuschung“ zu spüren. Während die drei Übergangsfilme, „Pan’s Labyrinth“, „The Fall“ und „Tideland“ durchaus noch überwältigen müssen, haben diese drei, und „Fantastic Mr. Fox“ ganz besonders, auch einen entschleunigten Gestus. Die Traumwelt funktioniert nach ihren eigenen Regeln und muss nicht unbedingt (obwohl es zumindest bei Burton doch wieder erscheint) eine Leistungsschau der digitalen Filmtechnik sein. Und es schimmert durch, wie sehr Anderson in Mr. Fox ein magisches Abbild des Autors Dahl und seiner selbst sieht. Der Fuchs Mr. Fox ist ein ehemaliger Hühnerdieb, der nun, tatsächlich, als Zeitungskolumnist arbeitet, und sich in ein sündteurer Baumhaus-Appartement einquartiert, ausgerechnet in der Nähe einer Geflügelfarm. Da ist Mr. Fox wie ein klassischer Yuppie, oder eine Seitenfigur der Finanzkrise, wenn man so will. Und natürlich kann er eben seiner „Gier“ nicht widerstehen und klaut wieder Hühner und Gänse. Und sein Sohn Ash (den es so bei Dahl nicht gibt) ist der typische Nerd und Verweigerer, der sich in seine Comics vertieft und seine Umwelt kaum wahrnimmt, eine Traumwelt in der Traumwelt sozusagen, und mit dem Vater schon gar nicht zurechtkommt. Und deshalb geht es natürlich in erster Linie um die Selbstfindung von Ash, hinter der Action von Mr. Fox’ Kleinkrieg gegen die Menschen. Also hat Anderson einfach seine Geschichte von den dysfunktionalen amerikanischen Familien fortgesetzt im Genre des Animationsfilms. Und ist wohl von den dreien noch der „konservativste“ mit seiner Vater-Sohn-Anerkennungs- und Sportgeschichte.

Für Tim Burton geht es natürlich wieder einmal darum, auf die dunklere Seite der Geschichte zu gelangen, die bei Walt Disney reichlich aufgehellt und mit surrealer Süße überzogen war. (Funktioniert hat das freilich damals prächtig). Daher erzählt Burton aus einem ganz anderen Blickwinkel. Seine Alice ist nun schon neunzehn Jahre alt und ihre Flucht betrifft wesentlich mehr als ein Buch ohne Bilder. Sie entflieht der viktorianischen Gesellschaft, die über ihr Schicksal entscheiden und sie verheiraten will, und sie kommt bei der Flucht wieder in jenes Wunderland, das sie schon zehn Jahre zuvor besucht hat. Das Entscheidende indes: Sie kann sich an diese Geschehnisse nicht mehr erinnern. Der Film wird bereits mit Worten „doppelt adressiert“, die direkt aus Mark Twains Erklärungsversuch entsprechen. Es ist ein Film, sagt der Produzent Zanuck, „für die Kleinen, und für die, die klein waren, als sie das Buch zum ersten Mal gelesen haben“. Und so kann Alice nur Alice werden, indem sie sich gleich zweimal der Kindheit stellt, ihrer eigenen wie der des Wunderlands, Kindheit als langue und als parole.

Und wie bei den anderen beiden Filmen muss auch sie eine Aufgabe übernehmen, den Jabberwock bezwingen, einen furchtbaren gate keeper, und auch hier geht’s natürlich um eine Reise der Selbst-Erfahrung in der verrückt gewordenen Erwachsenenwelt. Alices Befreiung ist, radikal genug, nicht nur als eine in der Gesellschaft, sondern sogar von der Gesellschaft gesehen.

„Während das normale Individuum eine konkrete Erfahrung seines In-der-Welt-seins besitzt, erfährt der Schizophrene sich selbst als Welt“, so beschreibt es der Psychiater Torsten Herner.

Oder das Kind, wie Ash Fox, Alice oder Max; das Kind ist kein normales Individuum, sondern eine Welt. Man wird als Welt geboren und stirbt als überflüssiges Individuum. Zurück zur Kindheit bedeutet zurück zur Schizophrenie, oder, anders gesagt, der Versuch ein „normales Individuum“, also erwachsen zu werden, bedeutet, sich zu entschizophrenieren, oder wenigstens das Schizophrene zu verbergen. Wenn also die Kindheit nicht mehr da ist, wo sie sein sollte, wenn sie unentwegt die Adresse ändert, dann werden wir uns wohl in einer Welt der Welten, in einem Chaos der ineinander verschachtelten schizophrenen Menschen-Welten zurechtfinden müssen. Die Kinder haben den öffentlichen Raum nicht gestürmt. Welchen öffentlichen Raum? Aber die Kindheit hat Besitz ergriffen vom Sehen. Das ist schon was.

 

Autor: Georg Seeßlen, geschrieben März 2010

Bilder @ Disney, Tobis