Die wirkliche Person

Dieser Schriftsteller ist der Verfasser wunderbarer Prosa und grauenhafter Romane. Und er ist der paradigmatische Intellektuelle schlechthin, stärker als Günter Grass. Denn wo dieser Geborgenheit und Liebe im Herzen seines Publikums sucht, da bemüht sich jener um Konfrontation und Irritation. Walsers Hauptfeind steht nicht rechts oder links: Es ist der Zeitgeist.

In seiner vielleicht schönsten Prosa, der Novelle Ein fliehendes Pferd (1978), formuliert die Hauptfigur ihre Sehnsucht, unerkannt zu leben, verkannt zu werden. Sobald es ihm gelang, Fehlschlüsse zu befördern, fühlte er sich wohl. Dieser Helmut probierte Gesichter und Benehmensweisen aus, die ihm geeignet zu sein schienen, seine wirkliche Person in Sicherheit zu bringen vor den Augen der Welt . Das Wirken des Mannes, der diese filigrane Prosa schrieb, mutet an, als habe er sie eben darum bemüht: Die eigene, die wirkliche Person verschwinden zu lassen hinter wechselnden Masken. Der Mann, aufgewachsen gleichsam mit der Gruppe 47, schreibt in den sechziger Jahren Dramen (Eiche und Angora), die sich unzweideutig polemisch, in zum Teil ätzender Satire mit dem Verhältnis der Bundesrepublik zum Nationalsozialismus befassen. Und 1998 hält er in der Frankfurter Paulskirche eine Rede, in der er von der Moralkeule Auschwitz spricht. In den sechziger Jahren betreibt er Wahlkampf für die SPD, gilt zu Zeiten als Sympathisant der DKP. Und 1988 erklärt er, sich nicht mit der deutschen Teilung abfinden zu können. Linker oder Rechter? Sozialist oder Nationalist? Sobald es ihm gelang, Fehlschlüsse zu befördern, fühlte er sich wohl.

Walser ist am Bodensee geboren, wo er noch immer lebt; eine wichtige und exzellent geschriebene Szene der eingangs erwähnten Novelle spielt auf eben diesem See. Und dem Ritt über den Bodensee gleicht mitunter Walsers Selbstverständnis, 1988, in der Paulskirche, war das Eis zu dünn. Hier, dieses eine Mal, waren seine Denkweise, seine Mentalität nicht produktiv. Denn das Wort Auschwitz ist in Deutschland noch eine geschützte Art und sollte es auch bleiben. Damit spielt und experimentiert man nicht, wie es Walser tat, wie es die FAZ tat, als sie 2001 sein Buch Tod eines Kritikers in einer perfiden Inszenierung unter Antisemitismusverdacht stellte  was wohl auch dazu beitrug, dass Walser in diesem Jahr in der Erfurter Michaeliskirche von linken Autonomen rüde attackiert wurde. Tod eines Kritikers war ein literarisch tristes Buch, aber antisemitisch war es nicht. Indessen, es war die Vorlage eines bösen Spieles auf der öffentlichen Bühne und flugs war, wer Marcel Reich-Ranicki nicht mochte oder karikierte, was doch möglich sein muss, in die antisemitische Ecke gestellt. So gab die Debatte um dieses Buch Walsers Rede in gewisser Weise Recht  und dennoch, so spricht man nicht in Deutschland und gar nicht an einem seiner edelsten Pulte, der Paulskirche.

Eine Grundeigenschaft von Martin Walser ist wohl eine Art von widerständigem, querliegendem Trotz. Ein Trotz, der es ihm beinahe unmöglich macht, Konventionen zu akzeptieren, wenn sie gegen sein Empfinden laufen. Und der ihn daran hindert, zu akzeptieren, dass es einen Unterschied geben kann zwischen einer privaten Empfindung und ihrer öffentlichen Demonstration. Walser weigert sich, die berechenbare Wirkung einer öffentlichen Äußerung als Teil der Verantwortung des Äußernden zu begreifen. Sein Hauptfeind ist immer der Zeitgeist, immer die  Routine unbefragter Rituale; seine Angst gilt immer dem als selbstverständlich, als sakrosant Geltenden, das nicht mehr befragbar scheint. Das ist nicht ohne Gefährdung, denn es gibt durchaus sinnstiftende Rituale einer Gesellschaft, die um Auschwitz kreisenden  gehören dazu. Das ist aber auch die Haltung, die Walser zum vielleicht letzten Vertreter des Intellektuellen gemacht hat, dessen Amt am Ende die Erregung von öffentlichem Ärgernis ist. In jener Novelle erklärt eine kritisch gesehene Figur, einem fliehendem Pferd dürfe man sich nie in den Weg stellen. Martin Walser ist süchtig nach fliehenden Pferden.


Autor: Henryk Goldberg

Text: „Martin Walser, der heute 80 wird, ist der Intellektuelle schlechthin“,

veröffentlicht in Thüringer Allgemeine, März 2007 (anlässlich Martin Walser 80. Geburtstag am 24.03.1927)