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Lars von Trier haut gern mal auf die Pauke, ob nun bei persönlichen Auftritten oder in seinen Filmen. Bei der Berlinale gerade war der persönliche Auftritt allenfalls albern, der Film jedoch ist stark, sehr stark. Nun ist man ja von Lars von Trier starken Tobak gewohnt. Hier stand im Vorfeld das Schlagwort „Pornographie“ im Raum und prägte die Erwartungen. Die werden erfüllt. Es geht hart zur Sache. Doch der jetzt zu sehende erste Teil des Films begeistert nicht deswegen. Er begeistert als ebenso kraftvoller wie sensibler, durchaus aufregender, vor allem aber anregender Diskurs über das Fehlen von Moral in unserer Zeit.

Die kleine Geschichte beginnt damit, dass ein älterer, allein lebender Herr namens Seligman (Stellan Skarsgård) in einer dunklen Gasse, zufällig, beim Nachhauseweg von einem kleinen Einkauf, die brutal zusammengeschlagene Joe (Charlotte Gainsbourg) findet. Er nimmt sie mit zu sich nachhause, pflegt sie, fragt sie, was passiert ist. In viereinhalb Kapiteln, die durch Zwischentitel wie zum Beispiel „Delirium“ gekennzeichnet sind, erzählt die etwa Fünfzigjährige aus ihrem Leben. Dabei dreht sich scheinbar nym_320alles um ihre vermeintliche Lust auf Männer. Die Botschaft ist simpel: Sex an sich ist ja was Schönes, doch ohne Liebe wird’s schnell fad. Liest sich banal, ist banal – doch, wie so viele Banalitäten, wichtig ist es auch, gerade heutzutage, da scheinbar alles gekauft werden kann.

Hauptdarstellerin Charlotte Gainsbourg tritt in diesem ersten Teil des Films, der abrupt mitten im fünften Kapitel endet, gelegentlich als Erzählerin auf. In langen Rückblenden wird die Rolle der Joe zunächst von mehreren Kinderdarstellerinnen verkörpert, ehe Debütantin Stacy Martin den Part ab der Teenagerzeit übernimmt. Die Präsenz der jetzt 23-Jährigen ist enorm. Dazu strahlt sie noch in den drastischsten Momenten eine geradezu anrührende Unschuld aus. Stacy Martin lässt selbst Shia LaBeouf, der einen der Lover von Joe verkörpert, alt aussehen. Besonders wirkungsvoll sind jene Szenen, in denen die tiefe Menschlichkeit der Figur zum Tragen kommt. Wenn Joe etwa den sterbenden Vater (großartig: Christian Slater) im Krankenhaus besucht, wirkt die junge Frau bei aller nachvollziehbaren Hilflosigkeit doch auch sehr stark. Man ist sich sicher, nym_320_2dass ihr nicht wirklich etwas Furchtbares zustoßen kann. Denn ihre innere Unschuld ist auch so etwas wie ein Schutz vor allem Übel dieser Welt. Und der ist so leicht nicht auszuhalten. Das macht Uma Thurman in einer Schlüsselszene klar: Sie spielt die Mutter von gleich drei Jungs, die ihren Mann und Vater der Kinder an Joe verloren hat. Die Betrogene taucht mit dem Nachwuchs am Rockzipfel bei Joe auf, grad, als der Mann, von dem Joe gar nichts mehr wissen will, mit Sack und Pack eingetrudelt ist. Voller Verve, als spiele sie um ihr eigenes Leben, zeigt Thurman die erst unterdrückte, dann überspielte und schließlich brachial aus ihr heraus brechende Verzweiflung der Frau, zeigt deren Verwandlung in eine Furie. Das ist brüllend komisch. Doch die Komik verdeckt den aus verschmähter Liebe erwachsenen Schmerz nicht, sondern zeichnet ihn mit teuflischer Schärfe. Das Lachen des Publikums ist eines von großer Traurigkeit. Hier wird der hohe Wert einer Moral, die auf Achtung des Mitmenschen, auf Respekt und eben auf Liebe in allen Spielarten beruht, klar konstatiert.

Die expliziten Sexszenen sind klug in das mit geradezu sanftmütigem Ton angestimmte Hohelied auf die reine Liebe eingebettet, wirken nie abstoßend oder unangenehm. Lars von Trier weiß, dass man heutzutage, da scheinbar alles erlaubt ist, mit nichts mehr schockieren kann. Klugerweise versucht er das drum auch erst gar nicht. Stattdessen zeigt er überaus eindrucksvoll, wie öde ein Leben ist, wenn körperliche Lust völlig entzaubert nur noch Ware ist. Dabei weist er auf das wirklich Schockierende: Wir haben uns längst daran gewöhnt.

Peter Claus

Nymphomaniac 1, von Lars von Trier (Dänemark, Deutschland, Frankreich, Belgien 2013)

Bilder: Concorde