Gietinger_99crashes_340Auch Prominente sterben – auf der Straße

Klaus Gietinger nennt in seinem Buch die 99 bekanntesten Unfallopfer, wirft einen Blick auf ihr Leben und den Moment ihres Todes. James Dean, Helmut Newton, Jörg Haider, Jayne Mansfield, Margaret Mitchell, Albert Camus, Grace Kelly, Falco, Paul Walker – sie alle sind dem allgemeinen Motorisierungswahn zum Opfer gefallen und auf der Straße gestorben …

 

Ein Kapitel aus 99 

Albert Camus (1913–1960)

Er ist einer der bedeutendsten Philosophen und einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er schrieb bewegend über den Mythos von Sisyphos, machte Die Pest zum Hauptdarsteller eines Buches und gönnte dem Mann in seinem Roman Der Fremde einen glücklichen Tod. Eine seiner bekannten Sentenzen: »Das Absurde kann jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen.« Oder anfahren.

Geboren in Algerien, am 7. November 1913, als Sohn des Kellermeisters Lucien und seiner Frau, wuchs Albert Camus nach dem Tod seines Vaters, der nur ein Jahr später als französischer Soldat im Ersten Weltkrieg fiel, in Algier auf. Seine Mutter, eine Analphabetin und sprachbehindert, half ihrem Sohn, der sehr begabt war, aufs Gymnasium zu kommen. Mit 17 erkrankte er an Tuberkulose (TBC). Mit 19 machte er sein Abitur. Während seines Studiums in Algier 1932 lernte er die morphiumsüchtige Simone Hiés kennen. Sie heirateten 1934. Ein Jahr später wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). 1936 kam es zu einer Volksfrontregierung in Paris. In Algerien hatte die KPF allerdings bei den Moslems keinen großen Rückhalt. Doch Camus kämpfte für das volle Bürgerrecht der Algerier.

Erste Arbeiten und Stücke folgten. Da seine Frau ihre Drogensucht nicht beenden konnte oder wollte und ein Verhältnis mit ihrem Arzt (und Dealer) hatte, trennte sich Camus von ihr. Nachdem er der von Stalin – mit Rücksicht auf den Bündnispartner Frankreich – befohlenen Einstellung des antiimperialistischen Kampfes in Nordafrika nicht folgte, wurde er aus der Partei gejagt. Er erhielt eine Anstellung bei der linken Zeitschrift Alger Républicain, die 1940 eingestellt wurde, und heiratete Francine Faure, die ihn eine Weile ernähren musste. Camus, darin echter Franzose, scheute sich aber zeitlebens nicht, neben seiner Frau auch noch diverse Geliebte mit seiner Gegenwart zu erfreuen. In Paris erhielt er schließlich eine Reporterstelle bei Paris-Soir. Sein Roman Der Fremde war gerade fertig, als die Deutschen Frankreich besetzen. Zwischen Algerien und Frankreich pendelnd vollendete er seinen Mythos des Sisyphos. Nach einer Kur in Südfrankreich 1942 – die TBC begleitete ihn sein ganzes Leben lang – war ihm die Rückfahrt nach Nordafrika verwehrt, da mittlerweile die Alliierten Algerien besetzt hatten. Er vermisste seine Frau, die dort mit den zwei Kindern geblieben war.

In Paris wurde er nun Lektor bei Gallimard und schrieb den fesselnden Roman Die Pest, der allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg erschien. Camus stieg auf zum Kultautor mit der Zigarette im Mundwinkel und dem hochgeschlagenen Kragen, zu einem der bekanntesten Intellektuellen des besetzten Frankreich. Und er schloss sich wohl der Résistance an. 1944 wurde er Chefredakteur des Combat, einer Zeitschrift der gleichnamigen Widerstandsgruppe, fuhr aber auch schon mal nach Feierabend eine seiner Geliebten auf der Fahrradstange nach Hause. Ein wenig Romantik inmitten des deutschen Terrors, inmitten dieser »stumpfsinnigen und schwarzen Jahre«.

Er überlebte die deutsche Besatzung und freundete sich nach der Befreiung kurzzeitig mit Jean-Paul Sartre an, dem wichtigsten Vertreter des Existentialismus. Doch schon sein Essay Der Mensch in der Revolte brachte den zu dieser Zeit moskautreuen Sartre gegen ihn auf. Camus bestes Stück Die Gerechten erschien 1949 und setzte sich kritisch mit intellektuellen Attentätern auseinander, die um 1905 herum als Sozialrevolutionäre den Zarismus wegbomben wollten. (Eine Aufführung dieses Stückes in Deutschland wurde während der Schleyer-Entführung 1977 übrigens abgesetzt.) Von der Linie Sartres und der KPF hatte sich Camus inzwischen weiter entfernt, blieb aber ein Linker. 1957 erhielt er für sein Schaffen den Literaturnobelpreis.

 

Der Weg in den Tod

Weihnachten 1959 besuchten ihn seine Frau Francine und die Zwillinge Catherine und Jean in Lourmarin in Südfrankreich, wo er zu dieser Zeit wohnte. Auch Silvester feierte er mit ihnen sowie mit Michel Gallimard, dem Neffen seines Verlegers, dessen Frau Janine und deren Tochter Anne. Am Abend vor der Neujahrsnacht schrieb der große Schriftsteller und Philosoph seinen drei Geliebten Mi, Maria Casarès und Catherine Sellers serielle, fast gleichlautende Silvestergrüße. Nur die Anrede wechselte. Mi nannte er »meine Inniggeliebte, meine Glühende, mein Mädchen«, Maria hieß bei ihm »meine Herrliche« und Catherine schlicht »meine Liebe«. Allen dreien versprach der 46-Jährige ein Rendezvous in den nächsten Tagen. Dazu sollte es nicht mehr kommen.

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Albert Camus

Am 4. Januar 1960 wollte er nach Paris zu fahren, und zwar mit der Bahn. Doch Michel Gallimard überredete ihn, in dessen Dernier-Crie-Kfz, dem nagelneuen dunkelgrünen Facel Vega HK 500, einem 360 PS starken Sportwagen, mitzufahren. Gallimard saß am Steuer. Im engen Fond: Janine und Anne Gallimard sowie der Hund Floc.

Gegen 14 Uhr erreichten sie Villeblevin, eine Kleinstadt an der Route Nationale Nr. 6. Die Fahrbahn war hier mit Platanen gesäumt und an jenem Januartag schmierig glatt. Ein Lkw-Fahrer sagte später aus, der grüne Wagen sei mit 150 km/h an ihm vorbeigezogen und habe Walzer getanzt. Hätte Camus es besser beschreiben können? Ein Reifen war geplatzt. Der Supersportwagen prallte gegen eine Platane, schleuderte ob der großen Geschwindigkeit nochmals hoch und zerschellte am nächsten hellgrünen Baum.

Gallimard wurde schwer verletzt und starb zehn (anderen Quellen zufolge waren es drei) Tage später im Krankenhaus. Die zwei Frauen im Fond überlebten nahezu unverletzt. Der Hund Floc verschwand auf Nimmerwiedersehen – so wie die Seele des Mannes auf dem Todessitz, dieses Philosophen des Absurden, Albert Camus. Denn der war sofort tot. In der Hosentasche fand man später seine Bahnfahrkarte, im Schmutz der Straße die ersten 144 Seiten seines letzten Romans Der erste Mensch und eine Ausgabe von Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft.

Freunde hielten die Totenwache an seinem schlichten Sarg in Lourmarin. Kein Priester segnete ihn, als er auf dem Friedhof des Ortes beerdigt wurde. Dort liegt er nun unter einem einfachen Stein seit mehr als 50 Jahren begraben. Selbst kleinwüchsige Kleingeister wie der Ex-Präsident Nicolas Sarkozy haben es nicht geschafft, ihn ins Pantheon nach Paris zu überführen. Und vielleicht stellt sich der Geist des großen Philosophen, eingesperrt unter dieser Platte, vor, wie er mit der Bahn bequem nach Paris gefahren wäre, an jenem Tag. Immer wieder, so wie Sisyphos.

 

Verschwörungstheorie

Im Jahr 2011 konnte man bei Spiegel-Online lesen, der Corriere della Sera habe berichtet, der Dichter (!) Giovanni Catelli solle unveröffentlichte Passagen aus dem Tagebuch des tschechischen Dichters (!) Jan Zábrana gefunden haben, in dem stehe, dass ihm ein Informant (vielleicht ein Dichter?) zugetragen habe, es sei der KGB gewesen, der das grüne 360-PS-Kfz-Geschoss von Gallimard im Auftrag des früheren sowjetischen Außenministers Dmitri T. Schepilow präpariert habe. Und zwar deshalb, weil Camus den Außenminister wegen des 1956 niedergeschlagenen Ungarnaufstandes angegriffen und diese Niederschlagung das »Schepilow-Massaker« genannt hatte.

 

Zutreffend?

Wie wir aus einer italienischen Zeitung erfahren haben, die einen Dichter kennt, der einen Dichter kennt, der einen Informanten kennt, vermutet Letzterer, dass Spiegel-Online immer mehr verblödet. Trotzdem sind wir dankbar für jede noch so abstruse Verschwörungstheorie. Weil man sie umso leichter widerlegen kann. Warum sollte man Camus vier Jahre, nachdem er zu Recht die Niederschlagung des Ungarnaufstands angeprangert hatte, mit einem Sportwagen umbringen wollen, den er eigentlich gar nicht benutzen wollte, sondern erst ganz spontan bestieg? Und wie sollte es dem KGB so schnell gelungen sein, die vermutlich in Lawrence-von-Arabien-Manier zunächst zur Beseitigung Camus vorgesehene Sprengung der Bahnlinie von Lourmarin nach Paris wieder abzublasen und den Reifen des grünen Teufelswagen exakt so zu manipulieren, dass er genau vor hellgrünen Platanen platzte?

Und wer soll den Auftrag gegeben haben? Dmitri Trofimowitsch Schepilow? Der hatte gegen Chruschtschow zu putschen versucht und war daraufhin am 29. Juli 1957 zusammen mit Wjatscheslaw Molotow und Georgi Malenkow aus dem Politbüro ausgeschlossen worden. Er schaufelte also vermutlich im Januar 1960 gerade Schnee vor seiner Datscha. Denn sein Nachfolger hieß Andrei Gromyko (»Genosse Njet«), der es im politisch schnelllebigen roten Moskau schaffte, bis 1985 Außenminister der Sowjetunion zu bleiben. Und warum hätte der den KGB zur Ausführung eines Racheaktes für einen gefallenen Genossen beauftragen sollen?

 

→ Verschwörungswahrscheinlichkeit: 0 %

 

Straßenverkehrstote in den USA 1949 30 246
Straßenverkehrstote weltweit 1949 155 228
Straßenverkehrstote weltweit insgesamt 1896–1949 3 315 573

 

 

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Klaus Gietinger

99 CRASHES – Prominente Unfallopfer

Westend Verlag

17,99 EUR

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