In doppelseitigen Anzeigen macht Bundeskanzler Schröder neuerdings Werbung für die ARD-Nachrichtensendung »Tagesschau«. Ausgerechnet für die »Tagesschau«! Da muss sich der Ethikrat sofort einschalten.

Ist ein Schauspieler jemand, der sich den Anschein zu geben hat, tatsächlich Zorn oder Verzweiflung zu empfinden? Diese Annahme sei irreführend, behauptet jener französische Kulturphilosoph, der sich den geheimnisvollen Decknamen Alain (1868 bis 1951) gab: »Auf dem Theater wie in der Messe ist das oberste Ziel das Schaffen und Festhalten von Zeichen.«

Da haben wir den moralischen Salat! Wenn wir es mit dem Schaffen von Zeichen zu tun haben, dann hat jede noch so kleine Form von Schauspielerei ihre ethischen Folgen. Nun werden Sie sich, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, wahrscheinlich nicht gern als Schauspieler bezeichnen lassen. Aber vielleicht können wir uns darauf einigen, dass eine großformatige Fotografie, auf der sie mit ebenjenem Ausdruck der »Konzentration auf das Wichtige«, von dem der dazugehörige Werbetext spricht, in einem menschenleeren Büro auf einen Fernsehapparat schauen, ein gehöriges Maß an Inszenierung enthält. Wir können uns dabei noch einmal Rat bei Alain holen: Politiker und Schauspieler werden von »der gemeinsamen Notwendigkeit bestimmt, verstanden zu werden«. Die schauspielerische Maske der Konzentration ist die physiognomische Leere. Tückischerweise aber behauptet nun der Werbetext das Gegenteil der Alainschen Darstellungstheorie. Er erklärt kategorisch: So sieht es aus, wenn man sich auf das Wichtige konzentriert. Ich weiß nicht, ob alle Leute diesen Satz in diesem Bild als so fürchterlich komisch empfinden wie ich. Aber es fällt schwer, die Beschwörung des Authentischen im produzierten Zeichen nicht durch das Spiel unseres Kanzlers widerlegt zu sehen.

Jede Schauspielerei, haben wir bei Alain verstanden, steht in einem bestimmten semiotischen Kontext. In dem Fall, um den es hier geht, handelt es sich in weitem Sinne um Werbung: Der Bundeskanzler guckt die Tagesschau der ARD. Doch natürlich unterscheidet sich eine Bundeskanzler-Reklame von gewöhnlicher Werbung. Die Zeichen beginnen, sich im Kreis zu drehen: Macht der Bundeskanzler Reklame für die Tagesschau oder die Tagesschau für den Kanzler? Oder machen beide gemeinsam Werbung für eine Ästhetik, die dem Phantom entsprechen, auf das beide angewiesen sind: die Neue Mitte? Weiß das Fernsehen mehr als der Bundeskanzler, oder will der wiederum nur wissen, was wir, das Volk, ihm durch unseren Lieblingsapparat mitzuteilen haben? Ich fürchte, Sie sind, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, Mitarbeiter bei der Herstellung einer Bilderfalle geworden – ob als Täter oder als Opfer, wage ich nicht zu beurteilen.

Eine eher konservative Kritik könnte sich nun Fragen nach der Würde des Amtes oder der Unabhängigkeit des Fernsehjournalismus stellen. Was, wenn einige Wochen später Angela Merkel, vergleichbar auf das Wichtige konzentriert, die Nachrichtensendung heute auf einem vergleichbar großen Foto betrachtet? Was passiert, wenn ein Volksvertreter zur Werbefigur wird, mit uns, dem Volk, dem Souverän dieses Vertretungsprozesses? Sind wir schlicht aufgelöst in der konzentrierten Kommunikation von Macht und Medium? Dieses Reklame-Foto ist Teil der Umwandlung der parlamentarischen Demokratie in eine Form des Medienpopulismus, eine visuelle Unterschrift unter einen neuen Gesellschaftsvertrag.

Aber es ist eben auch, mehr noch, eine semiotische Katastrophe. So viele Zeichen auch produziert werden, können sie doch nicht verbergen, dass dieses Bild vollkommen leer ist. Es muss leer sein, sonst wäre es ein Skandal. Vielleicht ist es deshalb noch nicht zu spät, daraus einige Überlegungen zu gewinnen, den Zusammenhang zwischen Schauspielerei, Werbung, Medien und Politik betreffend. Wenn man sich mal auf das Wichtige konzentrieren könnte. Ohne Fernsehen.

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in Die Zeit 06.03.2003 Nr.11