Egal, wer ihn am Sonntag bekommt: Längst hat der Oscar seine politische Unschuld verloren. Eine kleine Preis-Geschichte

In diesen Tagen werden wir die Wiederkehr der falschen Tränen und gerührten Dankesworte erleben. Die Preisverleihung in Hollywood ist die Machtdemonstration einer Institution, deren Geschichte und Funktion man vor lauter Glamour und Wettbewerbsspannung leicht vergisst. Wer weiß noch, dass die Academy of Motion Picture Arts and Sciences in einer Situation der Krise des amerikanischen Kinos gegründet wurde? Die Zuschauerzahlen gingen am Ende der zwanziger Jahre drastisch zurück, weil die großen Studios den Markt mit der immer gleichen Ware unter sich aufteilten. Die technische Entwicklung des Tonfilms war so weit vorangeschritten, dass eine vollkommene Umstrukturierung der Filmindustrie unabdingbar wurde. Vor allem aber hatten es die Gewerkschaften im Jahr 1926 endlich geschafft, für die Filmtechniker einen gemeinsamen Tarifvertrag, das Studio Basic Agreement, durchzusetzen.

So stand es auf der Tagesordnung, dass sich auch das künstlerische Personal der oligopolen Filmproduktion gewerkschaftlich organisierte, nicht nur des lieben Geldes wegen, sondern auch, um die absolute Macht der Studiobosse zu beschneiden. Und noch ein Problem brannte den Künstlern unter den Nägeln: die Zensur. In dieser Zeit gaben sich die Bundesstaaten ihre eigenen Gesetze zur Filmzensur. Was in New York harmlos schien, konnte in Arizona verboten sein. Die Antwort auf alle diese Krisenerscheinungen war die Institution mit dem harmlosen Titel Academy of Motion Picture Arts and Sciences. Der Grundstein wurde bei einem gemeinsamen Abendessen von Produzenten, Regisseuren, Schauspielern und Rechtsanwälten am 11. Januar 1927 im Ambassador-Hotel in Los Angeles gelegt: Die Antigewerkschaft von oben war geboren. Und von Anbeginn verstand es diese Organisation, ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen hinter dem Glamour und der Filmkultur zu verbergen. Perfekt eignete sich dazu der erste Präsident der Academy: Douglas Fairbanks.

Noch im selben Jahr zeigte die Academy ihr wahres Gesicht, als Louis B. Mayer sie als Werkzeug benutzte, um mit ihrer Hilfe eine zehnprozentige Lohnkürzung durchzusetzen. Diese Forderung war zwar nicht mehrheitsfähig, und doch gelang es der Academy, Verträge für Schauspieler abzuschließen, die die Forderungen der Gewerkschaften abblockten.

Aber die Academy hatte nicht nur diese Aufgabe in der politischen Ökonomie der Filmproduktion, sie musste ihr auch wieder zu einem Ansehen und zu einem einheitlichen Gesicht in der Öffentlichkeit verhelfen. Dazu schien kaum etwas so geeignet wie eine jährliche Preisverleihung. 1927 wurden zum ersten Mal die Academy Awards of Merit verliehen, Cedric Gibbons, der Art Director von MGM, entwarf eine Statuette dafür. Nur wenigen kam die Frage in den Sinn, was ein goldener, glatzköpfiger Mann mit einem Schwert, der vielleicht Mussolini gefallen hätte, mit Verdiensten für das amerikanische Kino zu tun haben könnte.

Bevor die Verleihung dieses goldenen Glatzkopfs zu einem Medienereignis erster Güte werden konnte, musste man bei der Academy noch aus ein paar Fehlern lernen. Am Anfang waren die Preisträger schon Monate vorher bekannt, und es gab keine Spannungsdramaturgie. Die Zeremonie der Preisübergabe war in einem Bankett organisiert und dauerte nur ein paar Minuten, bevor sich die illustren Gäste aus den Studios wieder ihren wohl gefüllten Tellern zuwandten. Und noch bevor überhaupt mehr als eine Randnotiz von dieser Zeremonie an die Öffentlichkeit gelangte, waren sich die Fachleute auch schon einig, dass bei der Preisverleihung kräftig geschoben und manipuliert wurde.

Die Academy hat im Lauf der Jahrzehnte aus allen Fehlern gelernt, von Jahr zu Jahr wurde die Zeremonie aufwändiger und perfekter, von Jahr zu Jahr erreichte sie eine breitere Öffentlichkeit. Die großen Skandale wurden kontrolliert, sie lösten sich gewissermaßen in den kleinen, strukturellen Manipulationen auf. Die Zeiten, in denen Studiobosse ihre Schauspieler-Ehefrauen zu Preis-Favoritinnen machten, sind gewiss vorbei. Vor die Maske des Glamours wurde noch eine Maske der Objektivität – natürlich immer im Einklang mit dem Zeitgeist – gezogen. Mit dem „Oscar“ (den Namen verpasste, wenn man einer der Legenden dazu glauben will, die respektlose Bette Davis der Statuette, als sie sich durch sie an ihren ersten Mann erinnert fühlte) vermittelte die Academy auf mehr oder weniger dezente Weise ein Bild vom jeweiligen Selbstverständnis der amerikanischen Filmindustrie. In den dreißiger Jahren gab es nie einen Oscar für einen der künstlerisch wie kommerziell erfolgreichen Gangsterfilme. Der Oscar blieb lange Zeit weiß und puritanisch. Bei den Auszeichnungen für die technischen Aspekte wurden stets diejenigen Entwicklungen geehrt, auf die die Studios bereits ihr Geld gesetzt hatten. Unbotmäßige Regisseure und allzu kritische Schauspieler bekamen keine Chance.

Seit bei der dritten Verleihung der Vizepräsident seinen Auftritt bei der Zeremonie erhielt, wurden die Verknüpfungen von Politik und Academy stetig ausgebaut. Apocalypse Now war nicht preiswürdig, wohl aber Die Rückkehr der Jedi-Ritter. Der Oscar war die kulturelle Waffe einer ökonomischen Institution, die sich jederzeit politisch instrumentalisieren ließ und spätestens in der Zeit der schwarzen Listen McCarthys den Rest von Unschuld verloren hatte.

Wiedergefunden hat Oscar seine Unschuld nie. Er ist nach wie vor eine Institution von Imagebildung, Manipulation und Kontrolle. Die Instrumente dazu werden nur immer feiner (und nebenbei scheint die moralische Empfindlichkeit des Publikums im Multiplex-Zeitalter erheblich gedämpft). Wenn es gar nicht mehr anders geht, inszeniert man in der Oscar-Verleihung auch, nun ja, Fortschrittliches. Durch eine 20 Jahre verspätete Verleihung an ein Opfer der Kommunistenjagd in Hollywood, Dalton Trumbo, zum Beispiel. Oder beim Schleifentragen für die Aids-Opfer. Im letzten Jahr schließlich als demonstrative Wiedergutmachung gegenüber den afroamerikanischen Schauspielern.

Seit den fünfziger Jahren ist es klar, dass Oscar-Auszeichnungen die Chancen eines Films auf dem Markt erhöhen. Je schlechter die Aussichten eines Filmjahres auf Gewinn (jenseits der Blockbuster) zu sein scheinen, desto mehr wird der Oscar zu einem Rettungsanker. Deswegen beeinflusste man gelegentlich auch die Verleihsituation. Filme mit guten Oscar-Aussichten werden mit nur wenigen Kopien gestartet, um die formalen Kriterien zu erfüllen. Nach Erhalt der Auszeichnungen werden sie dann in den Markt gedrückt – mit der Hoffnung auf Gewinn. Geht der Preis-Poker nicht auf, hat ein Film Pech gehabt.

Die Oscar-Verleihung ist ein kulturelles und ökonomisches Ereignis, das Politik macht, es sich aber nicht gern gefallen lässt, wenn Einzelne oder Gruppen mit ihm Politik machen wollen. Vielleicht hat es die engagierte Jane Fonda gut gemeint, als sie bei der Verleihung des Preises auf jede politische Geste verzichtete, aber indirekt unterwarf sie sich dabei wohl einem Mythos von Unschuld und Objektivität der Academy, der durch nichts zu rechtfertigen ist. In diesem Jahr wurden all jene Schauspielerinnen und Schauspieler nicht einmal als Gäste zur Zeremonie eingeladen, die sich allzu eindeutig gegen Präsident Bushs Pläne für seinen Irak-Krieg ausgesprochen hatten. So fein können die Steuerungsmittel bereits sein – und wenn es nicht hilft, mag die gezielt projizierte Fantasie von neuen „schwarzen Listen“ in Hollywood das ihre tun.

Ist Oscar also nichts als ein vergoldeter Bösewicht? Aber nein, er ist launisch und sentimental. Manchmal kann er nicht anders, als doch die Besten zu ehren. Manchmal sieht er aus, als würde er grinsen. Über die Kämpfe zwischen politischer Ökonomie und Filmleidenschaft rings um ihn zum Beispiel. Und deswegen fallen wir gern auf die nächste Zeremonie wieder herein. Aber vielleicht trifft es ja diesmal die Richtigen. Nominiert für den besten Film sind: Stephen Daldrys The Hours, Peter Jacksons Der Herr der Ringe: Die zwei Türme, Rob Marshalls Chicago, Roman Polanskis Der Pianist und Martin Scorseses Gangs of New York.

Autor: Georg Seeßlen

Text: veröffentlicht in DIE ZEIT 20.03.2003, Nr. 13