Die Forderung nach Anpassung ist eine unmögliche Zumutung – für In- wie Ausländer.

Aus Deutschland kommen gern mal zackige Töne. Auch in der Diskussion um das umstrittene Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ waren sie wieder zu hören. „Integrationsleistungen erbringen“, „Integrationsdefizit“, „mangelnder Integrationswille“, das klingt nach bürokratisch-militärischem Regiment, und auch wenn man im Nachbarland – ebenfalls sehr deutsch – den Makel des unhaltbaren Sarrazin schnell wieder wegputzte, bleibt der Ton zurück und breitet sich aus. Da heißt es dann schon mal in Zeitungsüberschriften forsch: „Wer sich nicht integriert, muss gehen.“

Für eine Deutsche, die in Österreich lebt, klingen diese Sätze doppelt beklemmend, weil man sich unerwartet von ihnen betroffen fühlt und weil ihre Intention in Österreich – in anderer Mundart sozusagen – genauso zu spüren ist. Doch wer einmal ausgewandert ist, weiß: Man kann sich ohne Verlust der eigenen Integrität nicht restlos integrieren wollen. Etwas sträubt sich zu recht. Und diesem Etwas, diesem Widerstand, muss sein Platz gegeben werden.

Ein Umzug von Deutschland nach Österreich ist eine privilegierte „Mikro-Migration“, keine Frage. Dennoch enthält sie alle Elemente dieser Erfahrung, in ein anderes Land, eine andere Kultur, eine andere Sprache zu kommen, und die Erfahrung ist um so verblüffender, je weniger man sie erwartet. Die Meisten unterschätzen, wie ernst es wird, wenn der Wechsel keine einfache Pendelei mehr ist, kein Urlaub, kein noch so langer Auslandsaufenthalt. Es entsteht eine Form von Ausgesetztheit und Unbehaustheit, die sich schärfer anfühlt, als bei einem Umzug im eigenen Land, denn nun greift zusätzlich die nationale und ethnische Konstruktion.

_____________________________________________

Integration lässt sich nicht erzwingen

_____________________________________________

Meine anfänglich naive Unbefangenheit mit Österreich ließ schlagartig nach, als ich merkte: Die hören, dass du Deutsche bist, und die sehen dich auch so. Bei Migration tritt eine  Verunsicherung im Umgang ein, ein Zögern, weil der geschmierte Kontakt gestört ist. Manchmal ist es nur eine unmerkliche Reibung, aber die sucht nach Erklärung. Ich habe bemerkt, dass ich Zustände als „typisch Österreich“ zu bezeichnen begann, die in Deutschland einfach nur ärgerlich gewesen wären. Etwa wenn die Bahn zu spät kam, die Post am Samstag nicht geöffnet hatte, der Klempner mittags schon nach Alkohol roch, die roten Ampelphasen zu lange dauerten. Plötzlich wird das Nationale, die fremde Kultur, zum Erklärungsmuster für alles, was anders ist als erwartet. Erwartbar aber ist, zumindest solange man die Regeln nicht kennt, gar nichts mehr. Menschen, die niemals migriert sind, finden solche Feinfühligkeiten übertrieben, sie spüren nicht diesen Riss, den es bedeutet, fremd zu sein. Migration hat aber etwas mit Scham zu tun, damit, dass man fühlt, wie sichtbar und auffällig das eigene Verhalten in der Fremde wird, und wie sehr ihm die Berechtigung, die Selbstverständlichkeit entzogen ist.

Dass sich Migranten im Ausland fast immer erst einmal mit Menschen der eigenen Nation anfreunden, ist daher nicht Absicht, es ergibt sich von selbst, weil man die eigene Kultur wie einen Duftmarke mit sich herumträgt. Was einem fehlt, in der Fremde, ist Intimität, eine Vertrautheit, die sich wie selbstverständlich herstellt, ein Einvernehmen, das sprachlos funktioniert, weil man – ganz im übertragenen Sinn – dieselbe Sprache spricht. Und worüber unterhalten wir uns, meine deutschen Migrantenfreunde und ich? Über die Österreicher und ihr Land natürlich. Am Anfang zumindest ist das immer Thema, und dieser Anfang ist länger als man erwarten würde. Er hört auch nie ganz auf.

_____________________________________________

Das Integrationsdefizit liegt auf beiden Seiten

_____________________________________________

Oft wird auch unterschätzt, wie sehr Migration ein Prozess ist, der seine eigenen Intentionen in Laufe des Prozesses wandelt. Die heroischen Geschichten vom definitiven Auswandern gab es vielleicht früher, als die Leben kürzer und die Wege länger und nach hinten abgeschlossen waren. Meist aber gehen die Menschen „erst einmal“, wer weiß, was kommen wird. „Erst einmal“ heißt: Ende offen, und daher funktioniert auch das Sich-Einlassen nicht als grundsätzliche Entscheidung. Touristen und Reisende können sich bedenkenlos und neugierig in alles Fremde stürzen, sie sind auf der sicheren Seite. Bei Migration aber steht ein Identitätswandel an, und der geht nicht, ohne an irgendetwas fest zu halten. Der Strohhalm, der sich wie von selbst als Halt anbietet, ist die Markierung, die man als Fremde oder Fremder sowieso trägt, die nationale oder ethnische Identität. Ihre Bedeutung wird dann schwächer mit der Zeit, ein anderes Leben baut sich auf, die Bezüge im neuen Land werden enger, die zum Herkunftsland versteinern nach und nach, werden irrealer und weniger lebbar.

Bin ich integriert in Österreich? Ja, nein, ich bin es – nicht. Ich bin es weder hier noch da. Aber ich kann sehr gut verstehen, dass man lange an einer imaginierten Herkunft festhält, man kann sie nicht verleugnen, ohne sich aufzugeben. Und wenn es schon mir so geht, wie fühlen dann erst die, deren Sprache, Hautfarbe und Religion eine vollkommen andere ist? Integration lässt sich nicht erzwingen, und ich würde jeden Staat dafür hassen, der das als pädagogische Forderung zumutet. Letztlich würde die aufnehmende Nation eine komplette Integration in ganzer Konsequenz auch nicht wollen. Das Verlogene an der Integrationsforderung ist ja, dass sie im klassischen double bind erst das konstruiert, was sie dann verneint. Sie macht uns zu Fremden, um dann zu fordern, wir sollten nicht so fremd sein. Der Integrationsimperativ ist ambivalent, aus ihm spricht immer noch die Furcht vor Unkenntlichkeit und zu viel Vermischung. Eine reine Assimilation wird – wir kennen da Beispiele – den Einheimischen schnell unheimlich. Das Integrationsdefizit liegt also auf beiden Seiten. Es hat etwas mit Angst zu tun, mit Fremdheit und mit einer vielleicht gar nicht so ungesunden Zögerlichkeit.

Text: Andrea Roedig

Text zuerst erschienen in: Der Standard