Krippe-680

Nativity Scene, Germany, early 20th century (Photo: Andreas Praefcke – Own work)

 

«Religion ist da, um bearbeitet zu werden»

Weshalb kommen wir in einer weitgehend säkularisierten Welt nicht von christlich motivierten Ritualen und Figuren los? Der Theologe und Kulturwissenschaftler Rolf Bossart plädiert für eine aufgeklärte kulturelle Einbindung der Religion – auch als wirksames Mittel gegen den Fundamentalismus.

Herr Bossart, an Weihnachten versammeln sich jedes Jahr auch viele Menschen, die mit Religion nicht viel am Hut haben, im Familienkreis unter den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Wie beurteilen Sie dieses Phänomen aus christlicher Perspektive?
Rolf Bossart: Dass Weihnachten heute so stark als Familienfest wahrgenommen wird, ist sehr interessant. Denn im Zentrum der christlichen Weihnachtsgeschichte steht mitnichten eine klassische Familie, sondern vielmehr ein ungewolltes Kind mit einem Vater, der sich extrem schwertut, dieses anzuerkennen. Dazu kommen ganz viele «Fremde» von aussen, die das Aussergewöhnliche dieser Geburt quasi autorisieren. Es ist also von der Tradition her kein exklusives Familienfest unter Blutsverwandten. Gefeiert wird ausserdem die Menschwerdung von Gott. Aus sozialkritischer Sicht kann man darin vor allem eine Selbsterniedrigung der Macht sehen. Weil die Macht hier sich im Kleinsten verkörpert, Jesus am Rand der Zivilisation in einem Stall geboren wird. Und er wird zuerst von den Ausgestossenen wahrgenommen. Deshalb hat Weihnachten auch eine grosse Symbolkraft. (…)

Von Daniela Janser (Interview)

Die Wochenzeitung Nr. 52/2015 vom 24.12.2015

Photo: Andreas Praefcke – Own work (own photograph) CC BY 3.0