hitler 680

 

Der Führer befahl und alle folgten

Peter Longerich reinstalliert in seiner Biographie Adolf Hitler als die beherrschende diktatorische Gestalt des Nationalsozialismus. Damit greift seine Analyse des Dritten Reichs aber zu kurz

 

„De facto beruhte Hitlers Position“, schreibt Peter Longerich gegen Ende seiner einschüchternd umfänglichen Führer-Biographie, „auf den Machtmitteln der Diktatur: auf der Beherrschung der Öffentlichkeit, die einer kollektiven Meinungsbildung außerhalb des vom Regime gesetzten Rahmens keinen Raum ließ, auf einer gut organisierten, eine Aura des Schreckens verbreitenden Repressionsapparat sowie einer kleinräumigen Kontrolle der ‚Volksgenossen’ durch den weit verzweigten Apparat der NSDAP und ihrer Unterorganisationen. Dank konsequenter Nutzung dieser Machtmittel verschaffte der Diktator sich maximalen Handlungsspielraum.“

Die Unterscheidung zwischen totalitärer Herrschaft und autoritärer Diktatur, einer Distinktion, an der sich Generationen von Politologen abgearbeitet haben, wird vom Historiker Longerich in einem Absatz geleugnet. Oder, was die Sache auch nicht besser macht, ignoriert. Dem Nationalsozialismus ging es demnach nicht etwa um einen radikalen Umbau von Mensch und Gesellschaft. Er schrumpft bei Longerich auf die skrupellose, verbrecherische Ausübung einer Herrschaft, die folgerichtig im Zweiten Weltkrieg mündete und letztlich zwischen 60 und 70 Millionen Menschen den Tod brachte. Das ist in der Bilanz schrecklich, aber das greift für eine Analyse des Dritten Reichs zu kurz.

Longerich tritt an mit dem erklärten Anspruch, die „Autonomie des handelnden Politikers Hitler herauszuarbeiten.“ Er will Hitler vom Odium des „schwachen Diktators“ befreien und ihn auch nicht marginalisiert hinter strukturalistischen Erklärungen von Funktionseliten und Modernisierungszwängen verschwinden lassen. Diese Stoßrichtung zielt einerseits gegen den unlängst verstorbenen Hans Mommsen, gegen Joachim C. Fests Diktum von Hitler als „Unperson“ und schließlich gegen den Briten Ian Kershaw und dessen hochgelobte zweiteilige Hitler-Biographie. Aber muss deswegen eine weitere, 1296 Seiten starke Biographie mitsamt allen politisch-öffentlichen Abläufen der Zeit auf den Markt kommen, die den „Mann aus Braunau“ wieder auf seinen alten Platz als alles überragende, letztlich aber „grandios gescheiterte“ Gestalt bei der Erklärung des Nationalsozialismus inthronisiert?

Longerich begreift Hitler als einen Mann, bei dem alle Fäden zusammenliefen, der die oft beschriebene Dysfunktionalität des NS-Systems zuließ und sogar noch beförderte, weil dieser Entscheidungswirrwarr zwischen Ämtern und Personen letztlich seine Position stärkte. Und der an Grenzen nur stieß, weil ihm die deutsche Bevölkerung nicht bedingungslos folgte. Etwa in Fragen der Euthanasie und der Bindung an die christlichen Kirchen. Oder – außenpolitisch gesprochen – die moralischen wie militärischen Widerstandskräfte der Alliierten letztlich doch größer waren als angenommen.

Die Beziehung zwischen Führer und Volk, zwischen Hitler und den Deutschen, also zwischen den wenigen Hierarchen dort oben und jenen vielen Menschen dort unten, erscheint bei Longerich weitgehend als Einbahnstraße. Hitler und die Partei geben innen- wie außenpolitisch Linien vor, haben aber zumindest in der Vorkriegszeit immer wieder mit Vertrauenskrisen, Unzufriedenheit, Murren und mangelnder Begeisterung zu tun. Longerich verweist immer wieder auf „die schlechte Stimmungslage im Reich“. Als ausgewiesener Historiker hat er natürlich auch Belege für diese Einschätzung. Seine Quellen sind häufig die geheimen Lageberichte des SD und die Deutschland-Berichte der Sopade. Aber eine Frage bleibt ungestellt: Gaben diese Berichte wirklich die objektive Lage wieder? Wie viel Wichtigtuerei und wie viel Pfeifen im Wald war hier im Spiel? Die einen suchten nach einer Legitimation für ihre Spitzeltätigkeit; die Exil-Sozialdemokraten verzweifelten umgekehrt ob der Passivität der Arbeiterschaft, die sich – sofern nicht weggesperrt oder vertrieben – im neuen System einigermaßen kommod eingerichtet hatte.

Bei allem Detailreichtum, bei aller akribischen Nachzeichnung von Namen und Funktionen, von Pakten und Bündnissen, Rochaden und Kehrtwendungen in der NS-Geschichte weist Longerichs Buch doch eine Leerstelle auf. Die quasi-libidinöse Beziehung zwischen dem selbsternannten Führer Adolf Hitler und den Deutschen bleibt ihm fremd. Diese Symbiose kulminiert in Hitlers berühmten Satz, ausgesprochen auf dem Parteitag in Nürnberg am 13. September 1936: „Das ist das Wunder unserer Zeit, dass ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen. Und dass ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück!“ Brausender Jubel war die Antwort auf diese Eloge. Bei Longerich stellt sich das Bild viel nüchterner dar: „Der Befund aus alldem ist eindeutig. Die vom Regime immer wieder behauptete Geschlossenheit der „Volksgemeinschaft“ in den ersten Jahren von Hitlers Herrschaft ist ein Trugbild der Propaganda.“ Longerich gibt dem deutschen Täter-Volk keinen Persilschein in die Hand, billigt ihm aber doch stark mildernde Umstände zu. Eine Identität zwischen Führung und Volk habe es nicht gegeben.

Psychohistorie, das heißt die Erklärung für das fatale Zusammentreffen der Traumata einer einzelnen Person mit dem kollektiven Trauma eines Verlierer-Volkes, ist nicht Longerichs Sache. Starker Widerwille spricht aus folgender Einlassung: „Hitlers Psyche, sein Gefühlsleben, seine körperliche Existenz, sein Lebensstil, sein Umgang mit anderen etc. – diese Aspekte können die Analyse komplexer historischer Sachverhalte nicht ersetzen.“ Ersetzen nicht – aber besser erklären doch!

Ein intelligent ökonomistischer Ansatz, wie Götz Aly ihn in „Hitlers Volksstaat“ verfolgt, sollte Longerich sympathischer sein. Der Verhältnis von Regierenden und Regierten als eines zwischen Geben und Nehmen, von ideeller Hingabe und materieller Belohnung zu begreifen – auf Kosten der Juden und der Bevölkerung der besetzten Länder – war ein großer Erklärungsfortschritt. Aber auch diese geheime Dialektik zwischen Macht und Ohnmacht findet keinen Eingang in diese Biographie.

Bleibt festzuhalten: Um einen bis in den totalen Untergangs eines Landes führenden Krieg und eine über den Tod Hitlers hinaus anhaltende Bindung vieler Deutscher zu ihrem Führer zu erklären, dazu reicht eine geduldige Rekonstruktion der in den Akten dokumentierten Tatbestände nicht aus. Bündige, oder wenigstens halbwegs bündige Antworten auf diese drängenden Fragen sollten wichtiger als immer neue Biographien Hitlers sein. Aber wahrscheinlich verkaufen sich Monographien schlechter als Biographien.

Michael André

 

hitler 350

Cover: Siedler

 

 

Peter Longerich: Hitler

Biographie, Siedler Verlag, München 2015

1296 S.

39,99 €

 

Cover Bertelsmann