Beginnen wir mir einem Zitat: „Das Auseinandertriften in eine Klassengesellschaft mit verarmender Mehrheit und sich absondernder reicher Oberschicht, der Schuldenberg, dessen Gipfel mittlerweile von einer Wolke aus Nullen verhüllt ist, die Unfähigkeit und dargestellte Ohnmacht freigewählter Parlamentarier gegenüber der geballten Macht der Interessenverbände und nicht zuletzt der Würgegriff der Banken machen aus meiner Sicht die Notwendigkeit vordringlich, etwas bislang Unaussprechliches zu tun, nämlich die Systemfrage zu stellen.“

Viele derer, die diesen Satz lesen, werden ihm zustimmen. Er drückt eine weit verbreitete Stimmung aus. Allenfalls die Redewendung, hier werde etwas „bislang Unaussprechliches“ gesagt, mag irritieren. Ähnlich hat schon einmal ein anderer Redner auf sich aufmerksam gemacht: „Zitternd vor Kühnheit“ trug Martin Walser 1998 in der Frankfurter Paulskirche einige Ansichten des – wie man es früher nannte – gesunden Volksempfindens vor.

Das eingangs gebrachte Zitat stammt allerdings nicht von ihm, sondern von einem seiner Kollegen: Günter Grass in einer Ansprache vor der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche im Juli 2011. Dort bot er sogar noch stärkeren Tobak an: eine ausgedehnte Verurteilung des Kapitalismus. Auch sie ist zur Zeit beliebt. Liberalkonservative Kritiker werfen ihr Populismus vor, sie sei vor allem Ausdruck eines Ressentiments. Man mag ihnen nicht gern Recht geben, aber es könnte etwas dran sein. Allgemeines Klagen über den Kapitalismus und über die Gier der Reichen ist von jeher nicht auf die linke Seite des politischen Spektrums beschränkt geblieben. Auch Reaktionäre haben sich zuweilen dieser Diktion bedient.

Grass ist wohl keiner, aber: 2004 unterschrieb er zusammen mit dem damaligen Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Michael Rogowski, und dem Porsche-Chef Wiedeking eine Erklärung, in der er sich für die Einführung von Hartz IV aussprach. In seiner jetzigen Rede hat er sich von seinem damaligen Verhalten nicht distanziert. Genau darauf kommt es aber an: auf das Kleingedruckte, das aus dem dumpfen Gefühl Klarheit zu Handeln schafft. Man kann auch sagen: auf den Primat der Innenpolitik.

Dies dürfen sich gern auch diejenigen von uns gesagt sein lassen, die seit Monaten mit einer Art wollüstigen Schauers Währungskrisen und den drohenden Bankrott ganzer Staaten kommentieren. Man bewegt sich dabei auf einer Ebene, auf der man selber nicht viel bewirken kann. Diese Kombination aus weltpolitischem Faltenwurf und Alternativlosigkeit nennt man: Stammtisch. Dieser ist nun allerdings seinerseits keineswegs alternativlos. Man kann sich auf den Anteil des eigenen Landes an der Misere konzentrieren. Darüber ist inzwischen genug bekannt: Jahrelanger Druck auf die Lohnstückkosten, die Sozialausgaben und die Steuern hat die Exportoffensiven der BRD befeuert – mit den bekannten Folgen für niederkonkurrierte andere Volkswirtschaften.

Wer das nicht nur beklagen will, muss in der Bundesrepublik ansetzen. Schon im Mai haben Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarat ein Manifest mit dem Titel „Arbeitszeitverkürzung und Ausbau der öffentlichen Beschäftigung jetzt!“ in Umlauf gebracht. Sie schlagen vor: 30-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich, Schaffung von zusätzlichen 800.000 Arbeitsplätzen bei Bund, Ländern und Gemeinden, zu finanzieren aus erhöhten Steuern auf Gewinnen, Zinsen, Mieten und Pachten.

Aller berechtigter Spott darüber, wie Sahra Wagenknecht sich in ihrem Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ auf Ludwig Erhard beruft, sollte nicht davon abhalten, zur Kenntnis zu nehmen, dass sie dort jenseits dieser missglückten Marketing-Idee vernünftige Vorschläge macht, insbesondere für die Sozialisierung der „systemrelevanten“ Geldinstitute und  die „Neutralisierung des Kapitals“ durch schrittweise Umwandlung von Privatvermögen in Belegschaftseigentum.

Das sind die tatsächlichen Hausaufgaben. Allgemeine Kapitalismus-Schelte klingt im Vergleich dazu wie der Gesang von Männern in der Badewanne.

 

Georg Fülberth in lunapark21, Heft 15 (Herbst 2011)