„Oh mein Gott, ich dreh’ durch!“ Die 19-jährige Lena Meyer-Landrut hat den Eurovision Song Contest gewonnen - und kann es nicht fassen.

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Kein Ich kann der Welt allein begegnen, jedenfalls nicht dass wir wüssten. Daher bedarf man der Anderen (von denen wir nur zu genau wissen, dass sie andrerseits die Hölle sind): Unseresgleichen, aber auch in der Geschichte jene, die vor uns waren und jene die nach uns kommen sollen. Ursprünglich waren die Götter nichts anderes als jene, die vor uns waren, die Ahnen. Was dann kam war ein Prozess der Verdichtung und der Ikonisierung. Am Ende blieb ein großes Alles und Nichts. Kommen andere nach, so ist selbst der Bürger ein kleiner Gott. Vielleicht bedeutet kulturelle Entwicklung den schweren Prozess, von den Ahnen zu den Nachkommen umzudenken. Zur Zeit sind wir vermutlich gerade in der Mitte, in einem großgeschriebenen, unsympathischen ICH.

Aber beides geht verloren, die Verpflichtung der Ahnen und die Hoffnung der Nachkommen. Das Ich, wir wissen nicht, ob es das will oder nicht, oder ob es nur der Weg des Marktes zur Macht so will, breitet sich endlos aus (am Ende kann es nur ewige Jugend und ewiges Leben wollen, oder doch wenigstens jede Menge Dinge, belebt und unbelebt, welche die untote Sphäre des Postbürgers bewachen soll).

Weil nämlich das Ich sich selber nie genug sein kann, bedarf es der Spiegelungen; es bedarf des anderen. Und so wie jedes Bild sich bezieht zugleich auf „das Abgebildete“ und das „Vor-Bild“, so ist, was sich Mensch nennt, zugleich Darstellung und Dargestelltes, Maske und Spiegel.

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Nur Zombies haben keine Vorbilder. Sie wollen nicht wie jemand anderes sein (wie es noch Kaspar Hauser dann wollte), sie wollen nur überhaupt sein, das heißt, wollen tun sie das so wenig wie sie es müssen. Sie sind einfach. Ohne Ahnen und ohne Kinder, ohne Götter und ohne Geschichte. Sogar ohne Fernsehen. Deshalb sind, merkwürdig genug, Zombies wiederum unsere Vorbilder; wer wollte derzeit nicht „Zombie-Fan“ sein? (Unsterblich, beinahe, im Auseinanderfallen.)

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Die Hohe Kultur (die Kultur der Herrschenden und die Kultur der Bürger) arbeitete an den Vorbildern. Der Wert, um dessen Weitergabe es ging, war zugleich vollkommener Text und vollkommenes Bild. Subjekt, Gesellschaft, Religion und Geschichte sollten im Einen zusammen kommen. Der Mensch, vor allem jener, den man als „noch nicht fertig“ ansah, sollte dem Vorbild nacheifern; das Vorbild ist der Vater jenseits des Vaters und die Mutter jenseits der Mutter, aber auch ein anderer Vater und eine andere Mutter (weshalb das Vorbild auch ein phantastischer Ausweg ist und gelegentlich seine pädagogischen Absichten verfehlt).

Es ist im Übrigen nur einerseits Vor-Bild, denn das Vor-Bild kann auch nur wieder Blick sein; man muss sich im Blick des Vorbilds wähnen, um ihm nahe zu sein. (Ansonsten wird aus dem Nacheifern und der profaneren Art des Nachahmens ein bloßes Rollenspiel der hierarchischen Ordnung.) Vorbilder sind so notwendig wie gefährlich in der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist so viel, vom imaginary friend bis zur Instanz der Ich-Bildung; der mythische Keim von Gewissen wie Ein-Bildung von Ideologie, Versprechen und Strafe. Die Beziehung von Mensch und Vorbild ist zwar kulturell geregelt (vermutlich ist ein Großteil der Kultur überhaupt zu nichts anderem vorhanden als zur Erzeugung und Kontrolle von Vorbildern), aber diese Kontrolle ist so kompliziert, dass der ganze Prozess immer mal wieder aus dem Ruder läuft: Es wird das falsche Vorbild gewählt, es wird das Vorbild falsch gewählt (zu total oder zu unscharf), es wird zu lange oder zu früh benutzt, es wird in falschen Konkurrenzen benutzt (das Vorbild schlägt die Eltern aus dem Spiel um die Seele), man wird es zu spät los, es erweist sich als Trugbild usw. Zwischen einem Menschen und seinem Vorbild kann eine Menge schief gehen.

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Vorbilder werden produziert, und sie werden in der Produktionsweise produziert, die einer Gesellschaft oder einer Gemeinschaft zur Verfügung stehen. Vorbilder also werden in der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft zu „role models“, die sich einerseits auf einem Markt präsentieren (man braucht also, um ein gewisses role model zu adaptieren einen speziellen Status und einen speziellen Geschmack, den man sich beispielsweise durch Fernsehen oder BILD-Zeitung aneignet), die andrerseits aber auch „frei“ wählbar sind und selber Ausdruck von Freiheit und Wahlmöglichkeit geben.

So wird das Vorbild in der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft vor allem einer oder eine, der oder die „es geschafft“ hat, das role model als neues Vorbild ist also weniger eine Instanz von Wert und Moral als schlicht ein Erfolgsmodell. Und in diesem Erfolgsmodell als Vorbild kommen die widersprüchlichen Elemente von Regierung und Kapital zu einer mythischen Einheit. (So beginnen wir bereits das Kinderzimmer mit Role Models auszustaffieren, Barbie ist anders als ihre Vorgängerin keine Kategorie mehr, Mensch/Kind/Mutter etc., sondern ein komplettes Rollen- und Erfolgsmodell, so dass es kein Wunder ist, dass wir auf dem Mode- und Popmarkt ständigen Wiedergeburten von Barbie und Ken begegnen.)

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Das Vorbild ist nicht nur in die Phase seiner demokratischen und kapitalistischen Offenheit getreten (es ist, sieht man es genauer an, immer noch Ausdruck von Positionen im Klassenkampf und Ausdruck im Kampf um die kulturelle Hegemonie), es ist auch in die Phase seiner soziologischen Supervision getreten. Der junge Mensch, zum Beispiel, wird sehr scharf darauf hin beobachtet, ob er Vorbilder hat und welche. Die entsprechenden Studien zur Zeit scheinen zu belegen, dass etwa sechzig Prozent der Jugendlichen in Deutschland sich dazu bekennen, ein Vorbild zu haben. Diese Vorbilder werden freilich sehr häufig durch „Mutter“ und „Vater“ besetzt, erst dann kommen die üblichen Prominenten aus den Bereichen Pop, Schauspiel und Sport; bei der Angabe von politischen Vorbildern begeben wir uns bereits in den Bereich der eingeübten Macht-Strategien. Man kann auch Lügen dazu sagen. Denn mit nichts kann man einander so betrügen wie mit Vor-Bilder und mit Vorbildern.

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Das Idol ist eine Ableitung des Vorbilds, das auf sich zu halten pflegt als reiner „Text“ und reines Bild: Jederzeit zum Diskurs befähigt (es tendiert daher, haben wir das schon erwähnt, zu einer gewissen Langweiligkeit, und übrigens auch zur Heuchelei: Wir trauen keinem Menschen, der sein „großes Vorbild“ öffentlich oder halböffentlich verkündet). Das Idol dagegen ist weitgehend mit Irrationalität aufgeladen; es bedarf des Kollektivs und es erzeugt das Kollektiv. „Wir haben ein Idol, und das ist Helmuth Kohl“ skandieren Mitglieder der Jungen Union. Das hat natürlich etwas umwerfend Komisches an sich (viel mehr als es die Aussage eines einzelnen der Nachwuchs-Machtmenschen wäre, Helmut Kohl sei sein „Vorbild“). Wie das Vorbild ehrfürchtige Distanz signalisiert, so signalisiert das Idol wonnige Verschmelzung.

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In einem Medium muss das frei gewählte Vorbild (und sei’s eine Figur in einer Soap Opera oder einer Zeichentrickserie – wie wäre es mit: „Mein Vorbild ist Bart Simpson“) zum Leitbild werden (im Sinne eines Bildes, das Leitfunktion hat ebenso wie im Sinne eines Bildes, das die Leitung über andere Bilder übernimmt). Natürlich vernichtet das Leitbild auch wieder das Vorbild: Leitbilder des Neoliberalismus sind nicht einmal mit sehr viel gutem Gewissen als Vorbilder zu verkaufen. Nur zum Beispiel.

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Eben die Auflösung des Vorbildes (das eine eindeutige Gestalt zu haben schien, wenn wir uns recht erinnern, aber wer erinnert sich schon genau an seinen Umgang mit Vorbildern?) führt zu mehreren Elementarteilen dieses Vorbildes, das doch so sinnfällig eben nur als ganzes erschien: Das Wunschbild, das Schreckbild, das Traumbild, das Sinn-Bild usw. Alles in allem: Die Spiegelung von Ich als anderes.

In der Gesellschaft kann das zerbrochene Vorbild nur durch die Konstruktion des „Idols“ wieder zusammengefügt werden (puzzlehaft genug): Eine Form des bildhaften anderen, die zugleich in tiefe Vergangenheit und in die Zukunft weist. Marktrational erzeugte Magie.

Das Idol ist jenes Ding-Wesen, das wir „abgöttisch“ lieben, also jenseits des religiösen und moralischen Dogma (aber nicht zwangsläufig in Opposition dazu). Dass das ursprüngliche Bedeutung des Wortes eine kleine Figur bezeichnete (vermutlich etwas, was wir heute als „Maskottchen“ benutzen und vor allem den Absatz von Waren und die Akzeptanz von Sportvereinen im Kinder-Block fördert), macht daher Sinn: es ist dies ein bewegliche Gottheit.

Im Idol wird also „vergöttert“ was schon grammatisch auf eine eigene Beziehung zwischen Subjekt und diesem Bild des anderen hinweist. Das Idol ist ein Subjektgott.

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Nicht nur aus der Vernetzung von Idolen entsteht Idolatrie, also eine Form der Bilderverehrung: Das Bild wird verehrt, nicht was in ihm sich abbildet. So entstehen heilige Bilder nicht nur als Ableitungen sondern auch als Ersetzung des Bilds des Heiligen. In kleiner Münze mag man nun „Kult“ als Form der Idolatrie bezeichnen. Bilder mit einer gewissen Autonomie wie der Star: Skandal ist nicht, wenn das Bild nicht dem Menschen entspricht, Skandal ist, wenn der Mensch dem Bild nicht entspricht. Was wir bis jetzt kennen gelernt haben, sind Techniken, Bilder auf eine Weise zu erzeugen, die eine Kontrolle unseres Lebens ermöglichen und gleichzeitig von unserem Leben kontrolliert werden. Es fragt sich nur, wenn wir in dieses System der wechselseitigen Kontrolle zwischen Ich und dem anderen herein lassen (den Staat? Die Gesellschaft? Den Kommerz? Den Stile? Pop? Die Gruppe?)

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Ein notwendiges Nebenprodukt ist der Fetisch, den wir uns in drei Formen vorstellen können:

Erstens als ein Ding, in dem sowohl die positiven wie die negativen Aspekte des „großen anderen“ gespeichert und gebannt sind.

Zweitens als ein Zeichen, in dem das Verbot und das Begehren einander neutralisieren, also ist Fetisch das, was wir nicht sehen dürfen und doch unbedingt sehen wollen (wir können also, nur zum Beispiel, den Horrorfilm als fetischistische Darstellung des Körperinneren ansehen) oder den Star als unscharfe Darstellung sexueller Ambivalenz.

Drittens als die rituelle Praxis, in der das Subjektgöttliche und das Objektgöttliche (Kult und Religion meinethalben, Geschmack und Politik auch) zusammen kommen.

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Unnütz zu sagen, dass der Fetisch nicht nur in seiner Warenform das heilige Ding des demokratischen Kapitalismus ist: So wird die Ware zum Fetisch, vor allem aber auch der Fetisch wird zur Ware (denken wir uns, neben dem Automobil, darin das Maskottchen aus dem 1-Euro-Laden). Es wird vielmehr auch fetischhaft gedacht (und gesehen). Und natürlich müssen sich auch Vorbild, Leitbild und Idol fetischistisch infizieren. Sie wirken in immer begrenzteren Räumen und Zeiten, in diesen aber um so totaler (oder hysterischer).

Diese Infektion führt dazu, dass aus der Gestalt das Prinzip der Wiederholung wird, und aus dem Text wird die Serie. Wie das Idol so ist auch der Fetisch in seinem Gebrauch zu beeinflussen (man kann ihn ebenso verbergen wie man den Fetisch auch betrügen kann; so wenig das Idol, wie der zornende und strafende Gott, alles sieht, so wenig ist der Fetisch die Vereinigung von bedeuten und sein im Sakrament („Dies ist mein Leib…“). Der Fetisch ist das Subjekt-Objekt: Ein Ding, an dem das Ich sich infizierte so wie sich das Ich an dem Ding infizierte.

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Menschen die Fans sind schließlich, haben für „das andere“ ausgesprochen unscharfe und mehrdeutige Bilder gewählt. Es ist klar, dass die „Unterwerfung“ unter das andere nun temporär ist, und zwar einerseits temporär in der Biographie (damals waren wir „Arcade Fire“-Fans) und andrerseits in der Architektur des Alltags (Fan bin ich, zumindest im offenen Ritus, in der Freizeit), das heißt im Gegensatz zum Vorbild (das nur verblassen kann) und zum Idol (das in aller Regel „fallen“ muss) und zum Fetisch (der sich wieder in Gebrauchs- und Tauschwert teilt) ist der Star, der Fans hat, seiner Fiktionalität gewahr. Er ist, genauer gesagt, ein Instrument der Fiktionalisierung.

Objekt der Fan-Beziehung ist nicht das Angestrebte, sondern ein Ersehntes (und eben weitgehend fiktionales), das auf einer Totalität nicht beharrt. Im Objekt des Fantums kommt das Begehren zu sich; noch mehr als ein So-sein-wollen ein So-begehren-wollen (Macht, Reichtum und Sexualität, viel mehr haben wir leider nicht auf der Agenda, sehen wir von den Mitteln dazu ab: Stil, Können, Kraft und Geschmack).

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Zunächst geht es um die Wahl und um die Bestimmung. Bin ich es der wählt, wird mir Vorbild oder Rollenmodell angetragen, und welche Kräfte üben darin Zwang aus? Ist es nun, nach dem Elternhaus und der Schule, das Fernsehen oder das Internet, was diesbezügliche Vorschläge macht oder auch Verbote ausspricht? So musste es kommen: Zu alledem eine „ödipale“ Beziehung, Überwindung, Einverleibung, Ausscheidung.

Auf den ersten Blick also scheint da ein durch Marktwirtschaft und Demokratie bestimmter Vorgang der Säkularisierung stattgefunden zu haben: Wie drastisch man noch am großen Vorbild scheitern konnte (wenn mich Winnetou jetzt sehen würde!), so unverbindlich bleibt die Beziehung des Fans zum Objekt seines, nun ja, „Fanatismus“. Es kommt selten vor, dass ein Fußballverein von seinen Fans enttäuscht wird, sehr häufig dagegen, dass ein Fußballverein seine Fans enttäuscht. Es scheint uns gelungen, die Mitte des Kultes zu besetzen (daher müssen wir gelegentlich die Bühne oder das Stadion „stürmen). Aber zugleich erahnen wir eine Künstlichkeit, Ich und das andere, beides Projektionen eines größeren anderen?

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Das Vorbild muss lesbar sein, das Idol vor allem mächtig bildhaft. Das Objekt der Fans ist  dagegen vor allem narrativ (nach der Wahl des Diskurses und des Bildes betrifft es nun die Wahl der Erzählung).

Zwischen alledem bewegt sich der Held (auch in seinen Formen als Volksheld, Kulturheld oder working class hero); der Held verweigert sich der Übertragung dieser Funktionen, er ist weder Vorbild noch role model, weder Idol noch Erfolgsmodell. (Deshalb dürfen Heldinnen und Helden scheitern, oder sie müssen es vielleicht sogar.) Deswegen helfen nur Helden, wo Vorbilder, Idole, Fetische und Stars herrschen.  Nur von Helden können wir erwarten, dass sie nach getaner Erlösungsarbeit wieder ihrer Wege ziehen und uns unserer Wege ziehen lassen.

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Aber Helden und Heldinnen sind natürlich anstrengend.


Autor: Georg Seeßlen

erschienen in Opak, 05/2010