Der Abschied vom Überkanzler ist eingeläutet. Doch die Deutschen ­weiden sich lieber am Zerfall seiner Familie, als die Folgen seiner Regentschaft zu hinterfragen

Vor der Schaffung des neuen, größeren Deutschland und dem Erwachen in Sozialabbau, Krieg und Krisen war die Bundesrepublik in einen langen Schlaf mit schweren Träumen gefallen. Man nannte diese Phase die „Ära Kohl“. Sie hieß nach dem massigen Kanzler, den man „Birne“ getauft hatte. Genauso, wie man im 19. Jahrhundert den Roi Citoyen Louis-Philippe, den letzten seiner Art, in seiner Metamorphose zu einer Birne karikiert hatte.

CC-BY-SA Engelbert Reineke

Der Spott bezog sich in beiden Fällen nur zum Teil auf physiognomische Besonderheiten. Er beschrieb vielmehr einen Wesenszug des Bürgerkönigs: der Mann dachte, fühlte, plante, träumte und regierte – birnenförmig. Nicht wie ein Apfel, der rollt, sondern wie jenes Gebilde, das durch seine Schwerkraft eine so stabile Position hält, dass man nach seinem Vorbild ein Kinderspielzeug konstruierte: das Stehaufmännchen. Und als wäre diese sonderbare Tropfenform der Macht nicht genug, schuf der Bürgerkönig Kohl in seiner langen Regentschaft eine dazu passende Rhetorik: Was ihm nicht passte, war „Plötzinn“, sein Lieblingsgericht war „Pfälzer Saumagen“, und Probleme wurden bei ihm „ausgesessen“.

Helmut Kohl war ein König, insofern er der perfekte Repräsentant seiner Ära war und seine Regentschaft mehr Züge altmodischen Herrschens enthielt als des technokratisch-demokratischen Regierens. Als am Ende gewisse Finanzierungswege seiner Herrschaft ruchbar wurden – das passende Bild dazu war der birnenförmige Mann, der den „Bimbes“ aus der Wirtschaft in Supermarkt-Tüten davontrug – schob er eine rhetorische Begründung nach: Ein „Ehrenwort“ hindere ihn daran, die Finanziers zu nennen.

Sehen wir einmal ab davon, dass wir diesem Mann so einiges, nicht aber ein Ehrenwort abgenommen hätten. Die Behauptung, das Ehrenwort einer „demokratischen“ Version des machiavellistischen Fürsten sei mehr wert als das Gesetz, konstruiert eine der Grundlagen postdemokratischer Herrschaft. Alle wussten, dass Kohls Macht weder auf eine besondere Kompetenz noch auf irgendein Projekt zurückzuführen war, sondern auf zwei – allerdings perfekt funktionierende – Mechanismen.

Erstens: In seiner Ära entstand inner- oder unterhalb des Parlamentarismus ein eigenes Machtsystems, das der Bürgerkönig grandios zu nutzen wusste: Es beherrschte die Kunst, „innerparteiliche“ Rivalen auszuschalten oder gegnerische Impulse ins Leere laufen zu lassen; das Wohlwollen der Wirtschaft nicht nur finanziell in dieses System einzuarbeiten; und im Zweifelsfall auf menschliche oder politische Rücksicht zu pfeifen. Während man davor glauben mochte, demokratische Politiker müssten „an die Macht kommen“, um regieren zu können, schien es unter Kohl umgekehrt zu sein: Er regierte, um zu bleiben. Die Macht war nicht mehr Medium, sondern Ziel der Politik. Und die Union mutierte zum „Kanzlerwahlverein“.

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Helmut Kohl war ein König, insofern er der perfekte Repräsentant

seiner Ära war und seine Regentschaft mehr Züge altmodischen Herrschens

enthielt als des technokratisch-demokratischen Regierens.

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Zweitens: Helmut Kohl war Deutschland, und Deutschland war Helmut Kohl. Diese Vorstellung war beides: politisch-medial inszeniert, und gleichzeitig kam sie aus den Tiefen des kollektiven Unterbewusstseins hervor. Der massige Mann war ein Versprechen an die Bürger: In dem scheinbar sozialen, kulturellen und politischen Stillstand sollten sie in Ruhe ihren Geschäften nachgehen – von moralischen, kritischen und intellektuellen Zumutungen weitgehend durch den Schatten des birnenförmigen Kanzlers geschützt.

So wurde der Bürgerkönig schließlich zum „Kanzler der Wiedervereinigung“. Für viele Ostdeutsche verkörperte Kohl den gezähmten Bürger, ein Bild, das jenseits der Propaganda vom „Dekadenten“ und „Bösen“ auf nichts hinzuweisen schien: Er war ein Kanzler, der nichts zu fordern und nichts zu fürchten schien. „Blühende Landschaften“, das war das Versprechen eines Schrebergarten-Kapitalismus, die größte Lüge von allen.

Kohl hatte auch die deutsche Wiedervereinigung ersessen. Das Gesicht des neuen Deutschland konnte er so nicht werden. Stattdessen wollte man Politiker, die ihre Brioni-Ärmel aufkrempeln, um Geschichte zu machen und Deutschland aus dem langen Schlaf mit schweren Träumen wieder ins Weltgeschehen zurückzuführen. Die Generation von Gerhard Schröder sollte das Liegengebliebene und das Vertuschte auf den Tisch bringen, die Agenda 2010 durchziehen und unsere Freiheit am Hindukusch verteidigen.

Für eine Mehrheit in Westdeutschland war die lange Kohl-Zeit ein Segen. Es herrschte wieder Ordnung im Lande, nach all den Erschütterungen, die die Generation der 68er über das Land gebracht hatte, auch und gerade im Privaten. Nun wuchs eine Generation heran, deren Bewusstsein davon geprägt war, nie etwas anderes als den praktischen Kohlismus kennengelernt zu haben.

Helmut Kohl hatte nicht nur wie ein Schwamm die Macht an sich gesogen, er hatte dabei auch die Politik mehr oder weniger abgeschafft. Am Ende seiner Ära hatte diese Politik der entpolitisierten Macht ebenso hysterische wie groteske Züge. Als Mitglieder der mehr oder weniger Jungen Union bei einem Fest skandierten „Wir haben ein Idol: Helmut Kohl“, da überschritten sie öffentlich eine Peinlichkeitsgrenze. Man konnte vorausahnen, dass es irgendwann ein Erwachen, eine Konditionierung der Scham aus dieser Ära geben würde.

Die andere Seite eines Bürgerkönigs ist die Bürgerlichkeit. Helmut Kohl war nicht so sehr ein Roi Citoyen als vielmehr ein Roi Bourgeois. Vor allem war er ein öffentlicher Kleinbürger. Ein Bürger mit kleiner Familie, kleinem Haus, kleinen Wünschen und bescheidenen kulturellen Ansprüchen. All das aber sollte perfekt sein und wurde entsprechend inszeniert: Die Frau mit der Betonfrisur, wie von einem Provinzcoiffeur mit rabiaten Methoden und Vorlagen aus vergilbten Zeitschriften geformt, die Familie beim Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel in einem Ambiente direkt aus der Hölle des Neckermann-Katalogs, Urlaub am Wolfgangsee, stetig und bescheiden, die beiden Söhne, Walter und Peter, die pflichtbewusst in die Kamera aufsagten, dass der Babba seinen Dschobb gut machen würde.

Das Familienbild, das die Kohls öffentlich präsentierten, war genauso reaktionär wie das der Mehrheit der „Wählerinnen und Wähler“, die Kohl als „Bürgerinnen und Bürger im Lande“ ansprach: Das Bild einer sauber strukturierten Ordnung, mit dem Vater im Zentrum, der Mutter im Hintergrund, und beide über dem fügsamen Nachwuchs. Genau so funktioniert ein demokratischer Roi Bourgeois: Indem er die Verantwortung der Macht und ihrer Kontrolle – eben die Mühen der Freiheit – von seinen Bürgern nimmt und ihnen dafür das Bild ihrer selbst zurückspiegelt.

Und verschwanden nicht hinter diesen Bildern die wahren Skandale dieser Zeit? Wurde nicht hinter ihnen – egal, ob man sie als ideal oder lächerlich empfand – verborgen, wie tückisch und nachhaltig sich die Demokratie transformierte? Auf jeden Fall musste sich dem empfindsameren Blick zeigen, dass die Bilder der heilen Familie nur mit Gewalt erzeugt werden konnten und dass die scheinbaren privaten Komplizen zugleich auch seine Opfer darstellen mussten.

Aber Empfindsamkeit war gewiss nicht die größte Bürgertugend jener Zeit.

Der Parteispendenskandal, der sich ums Verrecken nicht aufklären ließ, war der dunkle Nachklang des Kohl’schen Königtums. Der Selbstmord von Hannelore Kohl und der öffentliche Kampf des Sohnes um die eigene Identität der dunkle Nachklang von Kohls Inszenierung der Familie. Beide Nachklänge waren dumpf und unscharf; es verbot sich, genauer auf sie zu hören. Weil sie ebenso viele Nachklänge der politischen Kultur in Deutschland enthielten, tückische Verknüpfungen von Alltag und Politik. Und somit allesamt Nachklänge auch in der eigenen Biografie.

Nun aber doch. Aber warum jetzt? Man könnte geradezu von einer Geilheit sprechen, mit der sich die Medien und das Publikum auf die Kohls stürzen. Und argwöhnen, dass es wieder einmal das „Private“ ist, an dem der nicht verarbeitete Schrecken der Vergangenheit abgearbeitet werden soll – eben weil es nicht gelingen kann, sich mit der furchtbaren Politik des birnenförmigen Königs auseinanderzusetzen, ohne zugleich die mythischen Grundlagen des „neuen“, größeren Deutschlands zu befragen.

Und doch kann nicht einmal dieser maskierte Exorzismus-Versuch verbergen, worum es geht: Der öffentlich zelebrierte Zerfall der Familie Kohl verdeckt nur unvollkommen, dass auf diese Weise versucht wird, sich von einer Epoche der Korruption und der Gewalt an der Regierung und im Einfamilienhaus zu lösen, ohne diese Epoche „denken“ zu müssen. Es ist ein offensichtlich bewährtes Mittel, sich von historischen Traumata zu lösen, indem man sie vorher in eine Seifenoper verwandelt. Dann nämlich darf zugleich Mitleid geheuchelt und Häme verbreitet werden.

Das öffentliche Opfer der Kohls verbirgt freilich nur unvollkommen, dass es um noch etwas anderes geht, nämlich um die Furcht vor einer Wiederkehr der Ära Kohl. Alle Voraussetzungen dafür sind gegeben: Eine Bürgerkönigin, die die Techniken des Machterhalts so perfekt beherrscht wie ihr Lehrer, die das Herrschen eher als das Regieren pflegt und die ihre Macht perfekt repräsentiert: Merkel sieht so aus wie Deutschland, und Deutschland sieht so aus wie Merkel.

Die Bürgerkönigin verspricht sogar den Ausstieg aus einer der großen Gefahren. Wieder beginnt sich das Gefühl wohliger Entschleunigung – oder, wie man es nimmt, der gefährlichen Lähmung – zu verbreiten. Ist also, unter anderem, auch der Merkelismus gemeint, wenn die Kohls geopfert werden? Oder ist die Opferung der pfälzischen Familie genau umgekehrt gar ein Akt der Reinigung, der zur Wiedergeburt führen soll? Zum moralisch Gereinigten, zum Kohlismus ohne Familiendrama.

Angela Merkel ist die perfekte Adaption des Machtsystems Kohls gelungen. Den Fehler, ihre Bourgeoise-Haftigkeit bis in ein öffentlich inszeniertes Privatleben hinein zu veranschaulichen, begeht sie allerdings nicht – sieht man einmal vom textilen Design ihrer gender-gemainstreamten Uniform im bunt-maoistischen Bürolook ab.

Ihr Bürgerkönigtum besteht, im Gegensatz zu anderen Formen von postdemokratischer Herrschaft – etwa jener der halbfaschistischen Hampelmänner (wie Marilyn Monroe das genannt hat) oder des halbkriminellen Berlusconismus –, zum Großteil aus moralischen Übereinkünften: kein außerehelicher Sex, keine private Bereicherung, eine Datsche, Ehrenwort.

Möglicherweise reagieren wir in 20 Jahren ähnlich verstört auf den Zusammenhang von Frisur und Familie bei einer Ministerin des Merkelismus. Und wieder werden wir von nichts gewusst haben, schon gar nicht davon, dass im deutschen Bürgerkönigtum die sexuelle, moralische und familiäre Inszenierung der Macht ihr wahres Gesicht nach wie vor perfekt verbirgt.

© Georg Seeßlen

freitag, 14.07.2011