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Die Zeit der bösen Onkel

Freiheit wurde in den 70ern und 80ern am Körperbild von Jugendlichen verhandelt. Mit Lolita-Filmen im Mainstream und Schamlosem in der Gegenkultur.

Wir hatten Angst vorm bösen Onkel und eine vage Vorstellung von einem dicken Kerl, der sich aus einem Auto beugen und uns Bonbons anbieten würde. „Nimm’ nichts von Fremden“ hieß es, und „Zitrone, Banane“ sangen wir, und kamen bis „…und zieht sie nackig aus“. Alles andere verschwand in einem furchtbaren Knäuel von Wissen und Nichtwissen. Einige von uns mussten erfahren, dass es nicht Fremde waren, von denen die größte Gefahr ausging.

Und dann kam ein großer Diskurs der Befreiung. Die Kinder sollten befreit werden, die Sexualität sollte befreit werden. Konsequenterweise sollte auch die kindliche Sexualität befreit werden, von der schon die klassische Psychoanalyse erzählte.

Sexuelle Provokation freilich gehörte auch zu den Waffen der Counterculture. Wie sollte eine Grenze gezogen werden in einer Jugendkultur, deren Stärke gerade in ihrer unkontrollierbaren sexuellen Energie steckte und in ihrer Durchlässigkeit, zwischen dem, was „unsere“ neue Freiheit und was „deren“ Verlangen war?  Wer nur weg wollte aus einem restriktiven Elternhaus und wer der Schule den Stinkefinger zeigen wollte, der und die mussten eben auch sexuell älter und böser tun als man war. Die Jungs ließen sich die Haare wachsen, und die Mädchen schrien bei „Beat-Konzerten“. Es war ein Teil der Befreiung, sich „unschicklich“ anzuziehen, „obszöne“ Texte zu singen, sich „schamlos“ zu bewegen. Eine Aufforderung an die neuen bösen Onkels war es nicht.

Aber es war ein Unglück, dass sich dabei auch der böse Onkel befreite, in neuer Gestalt, hier und da. Er – und manchmal auch sie – brauchte keine Bonbons mehr und gab sich als Teil der Revolte aus. Er war ganz und gar verständnisvoll, und dick war er meistens auch nicht.

Natürlich ahnte niemand etwas von einem pädophilen Netzwerk, das im derzeitigen, erschrockenen Rückblick das Ausmaß einer veritablen Verschwörung anzunehmen scheint, die von den Kommunarden bis zu den Grünen, von der taz bis zur ZEIT, vom Kinderschutzbund bis zu reformpädagogischen Schulen, von der Kunst bis in den Sport reichte. Wahrscheinlich geschah das alles eher informell, aber strukturhaft. Es gab indes instinktive Abwehrmaßnahmen in Teilen der widerständigen Jugendkultur. Unsere Sexualität war nicht eure Sexualität! Die Punks ahnten, warum sie so stachelig sein mussten. Aber für die neuen Bösen Onkels gab es nicht einmal Worte, keine Lieder, keine Warnungen… Erst eine rechtsradikale Rockgruppe usurpierte und transferierte dann den Namen. Aber da war die Sache mit den Jugendkulturen ohnehin verloren.

Verdruckste sexuelle Gier der Medienwelt

Und es war nicht nur der einzelne böse Onkel, der die Gunst der Stunde erkannte, sondern es war auch ein kollektiver böser Onkel, eine von einer ebenso verdrucksten wie unersättlichen sexuellen Gier befallene Mediengesellschaft, die sich in den siebziger Jahren ein neues erotisches Beutebild fantasierte: die Kindfrau. In den „Schulmädchen-Reports“ und den „Lolita-Movies“, in Gestalt von Nastassja Kinski, Shirley Brooks oder Eva Ionescu. In den weichgezeichneten Fotografien von David Hamilton, der von sich behauptete, er könne die Jungfrauen am Geruch erkennen und der den Kamera-Blick zum Deflorationsinstrument machte. In den FKK-Magazinen am Kiosk, die von den Wonnen der freien Natürlichkeit berichteten. In den Wiederauflagen des Buchs „Josephine Mutzenbacher“, das man als Sprachkunstwerk zu erkennen glaubte. In Filmen wie „Pretty Baby“, „Maladoleszenza“ oder „Ausgerechnet ihr Stiefvater“, die, wie schon einmal, bei „Lulu“ und den anderen, das saturierte Bürgertum an der empfindlichen Stelle treffen sollte, der Mischung aus Frustration, Überdruss und Geilheit, die gleichsam automatisch den Blick auf die Kindfrau richtete. Und in den Mainstream-Medien, die sich gern an den „Debatten“ beteiligten, mit vielen Bildern, in der Werbung, in der Mode, im Entertainment.

Wenn sich der Mainstream empörte, dann nicht über die neuen bösen Onkels, die realen wie die medialen, sondern über die Kids selber. Die „Schulmädchenreports“, in die sich neben schmutzigen alten Männern auch manche brave Hausfrau verirrte, von den Medienmultiplikationen in den Illustrierten ganz zu schweigen, fungierten nicht nur als Augenfutter für Voyeure, die sich ansonsten von der „sexuellen Revolution“ ausgeschlossen sahen, sondern auch als Denunziation. Manches in dieser subpornographischen Kultur für den Mainstream war in der Tat als mediales „Selber Schuld“ zu lesen. Als ein „Sie haben es nicht anders verdient“ und „Sie fordern es ja heraus“. Als die Umkehrung der Täter/Opfer-Rollen. Die Frage ist nicht allein, ob diese in den Mainstream hinein „befreite“ Form der symbolischen Pädophilie, die Täter ermutigte oder ihnen Legitimation verschaffte. Die Frage ist auch: Warum ließ sich die europäische Mainstream-Kultur (wollen wir uns nicht verstecken hinter der Aussage: In Italien und in Frankreich war es noch schlimmer) im allgemeinen und die deutsche im besonderen im Ausklang der „Sexwelle“ und am Rand zur ersten großen ökonomischen Krise die mehr oder weniger ästhetisch und diskursiv verbrämte Pädophilie so angelegentlich und buchstäblich gefallen?

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Offensichtlich existierte die symbolische Pädophilie der Pop-Kultur in den sechziger und siebziger Jahre in einer „positiven“ und in einer „negativen“ Form. In der „positiven“ versuchte eine Mainstream-Kultur von der „Befreiung“ der jugendlichen Sexualität zu profitieren. Die einen versuchten es direkt, die Mehrheit eher indirekt (indem sie sich von der neuen Freiheit sozusagen anstecken ließen). In der „negativen“ Form der symbolischen Pädophilie dagegen verwahrte man sich, wie gehabt, aber in einer sexualisierten Form, gegen die eigene „verdorbene“ Jugend.

War das andere, das Gegenkulturelle, das, nun eben, „Befreite“, dagegen auf „Selbstbestimmung“ aus? Das Kind in der Kommune, deren Mitglieder sich nackt fürs Poster fotografieren ließen, das enorm erfolgreiche Aufklärungsbuch „Zeig mal“, ja sogar Cartoons wie der von Marie Marcks, wo die Kinder den duschenden Vater fragen, ob sie „Schweinchen Dick“ sehen dürfen, und er, ganz befreiter Pädagoge, meint, ja, aber man solle doch bitte „Penis“ dazu sagen. Da klang immerhin schon an, dass zwischen den Diskursführern und den Objekten dieser Befreiung ein Missverständnis herrschte. Ein Underground-Comix-Poster war immer noch für einen Lacher gut: „The Family that lays together stays together“, als besonders derbe pornographische Übernahme der Bigotterien von Middle America. Wo zum Teufel mochten die Grenzen sein zwischen der fiesen, ausbeuterischen Fratze des Medienkapitalismus, der sich auch noch die Kinder zum Ziel der sexuellen Ausbeutung machte, der Vernetzung der neuen bösen Onkels und einer „befreiten“ und „angstfreien“ Bejahung der kindlichen Lust an der Körperlichkeit? Und wer profitierte von der Verwischung der Grenze, wenn es denn eine gab?

Verschobene Grenzen

Die Grenze zwischen Verklärung und Kriminalisierung wurde jedenfalls entschieden verschoben. Der böse Onkel konnte nun doch nur noch der verklemmte, latent faschistische Gewalttäter sein; auf „unserer“, der richtigen Seite dagegen konnten nur glückliche und befreite Wesen stehen. Die Ideologie der Befreiung von Sexualität reichte bis in die Mitte der pädagogischen Institutionen, Widerspruch, ja sogar bloße Skepsis konnte als Ausweis verklemmter Rückständigkeit gewertet werden.

Arkadisch verklärt wurde obendrein. Und umgekehrt war es eine Methode des Dazugehörens, sich diesem Bild anzupassen, nach dem Rock’n’Roll eben auch die Drugs und dann den Sex auszuprobieren. Aber mittendrin war diese neue Freiheit vor allem eine vollkommene moralische Unklarheit, und es nahmen sich wieder nur die die Freiheit, die die Macht dazu hatten. Jetzt haben wir Erzählungen dazu, furchtbare Erzählungen, und wir haben Täter, Klaus Kinski, Roman Polanski, Danny Cohn-Bendit, die Mutter von Eva Ionesco und andere, in den verschiedensten Abstufungen der Schuld. Was wir nicht haben ist eine soziale und kulturelle Theorie, und wie es aussieht werden wir diese auch nicht kriegen.

„Freiheit“ wurde in den siebziger und achtziger Jahren nicht auch sondern vorrangig an den Körperbildern verhandelt, und nicht zuletzt an denen der Jugendlichen und Kinder. Denn die sexuelle Energie und die dabei entwickelten Bilder waren die einzige Möglichkeit für den Erwachsenen-Mainstream, sich am Aufbruch und an der Revolte zu beteiligen. Gewiss wurde durch die „verkauften Lolitas“, wie der Spiegel das damals nannte (in der Story zu einem Titelbild, nebenbei, das wir heute wohl nicht mehr dulden würden, außer Alice Schwarzer schreibt einen Text drum herum) nicht Pädophilie legitimiert. Aber es wurde eine Grauzone geschaffen, eine Strategie der Blendung. Wissen und Nichtwissen im Tabu vertauschten die Rollen und waren am Ende genau so furchtbar wie zuvor.

Sex sells – immer noch. Aber jetzt ist wieder der Empörungssex an der Reihe, neben der Transgression in bis dahin noch nicht voll-pornografisierten Lebens- und Medienbereiche: Zungenküsse zwischen Frauen auf der Pop-Bühne, Sextube und Internet Dating, öffentliche Pubertätspeinlichkeiten von Justin Bieber. Jetzt weiß jedes Kind, was ein Darkroom ist. Auch bei den Simpsons wird gevögelt, und was da an Deutlichkeit fehlt, wird in Fan-Cartoons nachgereicht. Die Pornografisierung unserer Welt gibt sich keine Mühe mehr, sich als Befreiung zu tarnen. Eine heile Welt oder ihre Simulation, in die ein böser Onkel einbrechen könnte, gibt es nicht mehr. Aber in einer voll-pornografisierten Welt ist es eben auch nicht mehr möglich, von Befreiung zu faseln. Der Mainstream der Kultur fühlt sich von dieser Pornografisierung auch noch der letzten Mediennischen bedroht, vor allem weil er ihr auch selbst nicht widerstehen kann. Wenigstens diese Grenze, die Grenze der Macht und der Gewalt gegenüber dem Kind, wird neu und fest gezogen. Und schon fühlt man sich als etwas Besseres. Und wieder hat man das Ärgste abgewandt: Und vermeidet das Nachdenken über sexuelle Ausbeutungs- und Machtbeziehungen, die politisch und ökonomisch gewollt sind.

Aber sonst? Wir erleben gerade eine neue Form der sexuellen Panik, zeitgleich und unzeitig zu einem gesellschaftlichen Projekt, vielleicht: Sich nicht nur dem Schrecken der Pädophilie in der Gegenwart stellen, sondern auch die Kulturgeschichte einer Revision zu unterziehen. Die Geschichte von Medien und Alltag zu befragen nach dem, was damals die Bilder und die Codes so zu vergiften vermochte.

Die Diskurse von Macht und Sexualität hatten offensichtlich zu einem Kurzschluss geführt. Die Dinge verwandelten sich in ihr eigenes Gegenteil; der Versuch, der „schwarzen Pädagogik“ zu entkommen, führte, wie das Beispiel der Mühlschen Kommune zeigen mag, zu noch schwärzeren Verhältnissen von Abhängigkeit und Missbrauch. Die großen Worte der Freiheit maskierten oft genug Verhältnisse, die für die Opfer die schiere Hölle waren. Und selbst Hilfsorganisationen wie „Zartbitter“ nahmen (hier schon im Namen) die gesellschaftliche Ambivalenz auf, und gerieten selber ins Zwielicht. Die Mainstream-Kultur dieser Zeit benötigte offenbar einen permanenten Erregungszustand, der erst nachließ, als sich die Bilder der Gier mit jenen der Apokalypse verbanden. Auf die „Schulmädchenreports“ in unseren verelendeten Kinos folgte nicht umsonst eine Welle von Filmen, in denen Teenager aufgeschlitzt und zerstückelt wurden, und die Kameras sahen mit der selben fetischistischen Lust dabei zu. Wir kannten die Regel dieser Filme, nur wer Sex, Alkohol und Rock’n’Roll widerstand, überlebte. Und auf die Lolitas antwortete ein Mädchen namens Regan, das vom Teufel besessen war und obszöne Worte schrie und mit dem Kruzifix masturbierte in „Exorcist“. Die symbolische Pädophilie und der Krieg zwischen Kindern und Erwachsenen bilden in der populären Mythologie eine sonderbare Einheit: Das sexuelle Begehren nach dem Kind wurde mit einem blutigen Opfer gesühnt – nicht das Opfer der Täter, sondern die zweite, hochsymbolische Opferung der Opfer.

Kann eine ganze Kultur schuldig werden? Reorganisiert sich die Macht durch die Sexualität ebenso wie sich die Sexualität durch die Macht reorganisiert? Die Organisation von Empörung jedenfalls dient noch stets der Verhinderung von Aufklärung. Während nämlich die mediale Empörung auf Lynchmob geschaltet wird, dreht der Staat ohne nennenswerte gesellschaftliche Gegenwehr, den wissenschaftlichen und medizinischen Formen von Prävention und Aufklärung den Geldhahn zu. Das ist neoliberale, postmoderne Politik schlechthin. Politiker, die von „Wegsperren“ schnarren, Kampagnenjournalismus und zwanglose Absetzung von Grundrechten, während zur gleichen Zeit Institutionen wie die Sektion für Sexualmedizin am Universitätsklinikum Kiel reduziert, und Männer mit pädophilen Neigungen, die sich selbst als Gefahr erkannt haben, müssen als Patienten abgewiesen werden. Man könnte sagen: Diese Gesellschaft will das Problem der Pädophilie weder überwinden noch aufklären, sie will es vielmehr in ihrem eigenen Sinne organisieren. Gehör findet in dieser Situation nur noch, wer es sich und seinen LeserInnen so einfach wie Alice Schwarzer macht.

Und dann? Offensichtlich bleiben die Deflorations- und „Lolita“-Träume dem kulturellen Anderswo überlassen: Die Proll-Story von den Herta BSC-Spielern, die eine 16jährige anbaggern und sie zu „Sexspielen im Kinderzimmer“ bringen, wie die Boulevardpresse genüsslich preisgibt im August des Jahres 2013 (einer von ihnen auch noch „verheiratet“), wird zum Echo-Futter der Empörungsgeilheit. Die „Affäre“ weitet sich aus. Sie wird zum Spiegel einer Presse, die sich heuchlerisch genug eine solche Geschichte erbeutet, indem sie die junge Frau noch einmal zum Opfer macht. (Es wurde ruchbar, Springer habe für die Geschichte 5000.- Euro bezahlt.) Und sieht man sich die Geschichten genauer an, was man als Medienkritiker gelegentlich zu tun hat, dann steigt auch in ihnen neben dem Voyeurismus die Denunziation auf. Und zwar nicht nur die der schnell erklärten „Täter“, sondern auch die der sogleich wieder ins Zwielicht gerückten „Opfer“.

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Was sich offenbart ist eine neue Grauzone, die ziemlich weit jenseits der „echten“ Pädophilie liegt, nämlich die Unklarheit darüber, was das eigentlich ist: „erwachsen“ (und damit, so hofft man, in der Lage „selbstbestimmt“ zu handeln). Die Ökonomie will so rasch als möglich den „erwachsenen Menschen“, der kaufen und verkaufen soll, der arbeiten und sich ausbeuten lassen soll. Die Macht erzeugt den Menschen in Unmündigkeit, aus der er nicht mehr herauskommt. Und die Moral? Nun, warum sollte sie plötzlich nicht mehr Macht und Ökonomie folgen?

Macht ohne Gegenmacht

Die Menschen werden von der Werbung und von den Medien immer schneller zum Erwachsenen (Konsumenten) gestempelt, mit der kollektiven Begeisterung für die Pop-Stars (und in diesem Fall eben auch Star-Fußballer) als soziale Erfolgsmodelle ist eine neue Falle aufgebaut, die sich vor allem durch die neuen Kommunikationsmedien blitzrasch zuziehen kann. Insbesondere dort, wo man nichts anderes anzubieten, wo nichts anderes nachgefragt wird als die Unterwerfung des Körpers. Natürlich wissen die neuen bösen Onkels, dass man die Kinder von heute nicht mehr mit Bonbons und Befreiungsphantasien erreicht, sondern in den elektronischen Labyrinthen und in den Diskursen der Casting Shows und der Karrieresucht. Dort hat die Industrie ein ideales Terrain erzeugt. Werbung funktioniert nicht ohne Sex, und Sex funktioniert nicht ohne Bilder. In der elektronischen Vernetzung gibt es den Unterschied zwischen der symbolischen und der direkten Pädophilie kaum noch, und zu kontrollieren ist er schon gar nicht. Aber auch neue Formen der Kinder- und Jugendkultur errichten ikonographische Jagdterrains. Und wieder erwischt uns eine ikonische und narrative Gemengelage:„Lolita-Kleider“ sind in der Goth- und Cosplay-Szene beliebt und in den entsprechenden Katalogen angepriesen. Die Manga, die populären Comics aus Japan, haben nicht nur eine eigene sexuelle Mythologie, das vollbusige großäugige Kind, das von tentakeligen Aliens vergewaltigt wird, ist ein Leitmotiv wie das „japanische Schulmädchen“ eine pornographische Ikone geworden ist, die sich mit kindlich-schüchternem Lächeln dem bösen Onkel unterwirft. In den Computergames werden sexuelle Rollen verhandelt, in den Kind-Sein und Sex-Haben in immer neuen Varianten miteinander in Beziehung gesetzt werden. Der neue Angelhaken ist die Sehnsucht nach einer nicht gehabten Kindheit. Und zur gleichen Zeit rekonstruieren die Mainstream-Spielsachen von Barbie über Playmobil und Lego bis zur Kinderüberraschung die alten Geschlechterordnungen, scheiden die phallisch-mächtigen Blauen Segmente von den weich-ohnmächtigen Rosa Segmenten. Schon im Kinderzimmer ist zu lernen, dass man Sex gegen „Luxus“ tauschen muss. Die Gesellschaft ist so beschäftigt mit der Empörung über die alten bösen Onkels, dass sie die Kulturen, in denen die neuen bösen Onkels arbeiten werden, nicht näher betrachten mag.

Zeitgleich mit der großen Empörung erlebt die Kulturindustrie einen neuen Boom. Und wieder geht es um einen Form der „Befreiung“; nur soll nun wiederum nicht der nette junge Bruder des bösen Onkels der Befreier sein, sondern es sollen die Frauen selber sein, die sich selbst und die junge Schwester (in sich) gleich mit befreien sollen. Und das Material dazu sollen sie gleich neben der Supermarktkasse finden, in allerlei geschriebenen und abgebildeten Schatten von Grau, in „Erotic Romances“, die ganze Regale in den Buchhandlungen füllen. Eine Unterabteilung der Kulturindustrie ist entstanden: Subpornos nun nicht mehr für die schmutzigen alten Männer sondern für gestresste, doppelbelastete Frauen. Wer wirft einen zweiten Blick in diesen Massenmarkt? Wer analysierte uns hier das Ideologem der „freiwilligen“ Unterwerfung und der Rekonstruktion der Machtverhältnisse? Wer liest für uns „Darling River“ von Sara Stridsberg, die Geschichte von der neuen Lolita, die vom Vater missbraucht die Vamp-Rolle adoptiert? Das Wort vom „Ausschlachten“ eines Mythos darf hier buchstäblich genommen werden. Eine Partypop-Gruppe nennt sich frank und frei „Lolita Hunters“, und was der Ballermann an Sex-Legenden und Grauzonen-Codes hergibt – Ihr wollt es gewiss nicht hören. Je prolliger die Comedian-Familien desto jünger das weibliche Sex-Objekt. Lieber noch die gern kolportierte Geschichte von den schurkischen und blöden afrikanischen Männern zum hundertsten male, die Jungfrauen vergewaltigen, weil sie glauben, dadurch von AIDS geheilt zu werden. Tief unten ist das alles in der Geschmacks- und Moralhierarchie, weit weg von der bürgerlichen Mitte. Und von Onkel Ernst, dem wir das nie zugetraut hätten. Ganz im Sinne der „feinen Unterschiede“ nach Bourdieu, ist die Grauzone des Sex mit Minderjährigen proletarisiert, oder gar in die postkolonialen Regionen (die deutsche Fürstin, die im deutschen Fernsehen erkennt, dass die Ausbreitung des Übels davon kommt, dass der Afrikaner an sich zu gern und zu oft schnackselt) ausgelagert, die „Reinigung“ hingegen verbürgerlicht. Dort wo die sexuelle Revolution entstand, im oberen und mittleren Mittelstand, ist sie auch am gründlichsten gescheitert und längst einer sexuellen Reaktion gewichen.

Lolita wird unterdessen zur virtuellen Köder-Agentin, ein fiktives, zehnjähriges „philippinisches“ Mädchen, das an jene Stellen des Internet entsandt wird, wo die bösen Onkels in den verborgenen Chatrooms nach ihren Opfern suchen. Dort wird diese Computer-manipulierte Erscheinung angeboten, wenn einer von ihnen nach Bildern vom „Sweetie“ verlangt. Dann zeigen sich auch die bösen Onkels, zumal die fiktive Lolita genau das zu sagen weiß, was böse Onkels hören wollen. Mithilfe von „Sweetie“ haben die amerikanischen Verfolgungsbehörden in zwei Monaten eintausend Pädophile dingfest gemacht – „overseas“, wie man betont. Eine Kultur, die sich ihrer eigenen Schuld gewahr wird, versucht sich durch Akte der radikalen Negation zu „befreien“. Was, wenn wir einmal vergleichen, wie unser öffentlicher Diskurs die Rolle des bösen Onkels besetzt, und wie die Kriminalstatistik ihn ausmacht? An die Stelle der Aufklärung tritt der „Feldzug“, und wie es bei bellizistischen Metaphern so der Brauch ist, wird alles, was sich nicht vorbehaltlos beteiligt, als Verrat begriffen. Man blicke einmal die Kommentar-Leisten zu entsprechenden Zeitungsartikeln im Internet durch: Kaum ein Thema lässt die Sprache so entgleisen.

Sexualität, Macht und Moral verhalten sich in einer direkten Relation zueinander. Das erklärt den Umstand, dass in den letzten Jahrhunderten die Gesellschaft vom Wirken der bösen Onkels so viel wusste und so wenig dagegen unternahm. Beinahe jeder und jede kennt Geschichten von Gemeinschaften, die von dem Missbrauch von Kindern durch Geistliche, durch Pädagogen, durch Verwandte wussten oder es hätten wissen müssen, und die schwiegen. Weil man es gewohnt war, dass die Macht recht oder Rechte hat. Die Moral wird dann umgemünzt in ein Mittel, sich der Opfer zu entledigen oder sie zum Schweigen zu bringen. Böse Onkels werden auch in unserer Gesellschaft in der Regel geschnappt, wenn sie arm, dumm, „angeschlagen“ oder tot sind (wie im Fall des englischen Entertainers, noch so eine schreckliche Geschichte).

Wie aber, wenn sich daran gar nicht so viel geändert hätte? Wenn die Reinigung nur ein schlechtes Theaterstück wäre? Wenn nur die Macht anders flösse, die Moral andere Parameter verwenden, die bösen Onkels neue Beutefelder fänden? Wir haben es damals selber lernen müssen, denn die Diskurse der Erwachsenen waren nie viel anderes als Verschleierungen: Wo es Macht gibt, die keine Gegenmacht und keine Kontrolle, keine Kommunikation und keinen Diskurs hat, da ist es gefährlich. Die bösen Onkels kennen die Gesellschaft, in der sie auf die Jagd gehen, immer besser als die sich selber kennt. Sie kennen ihre Schwächen. Sie kennen die Schattenseite ihrer Hysterien. Die Gleichgültigkeit.

Langversion des Textes 

Georg Seeßlen, aus: taz 5.12.2013

Bild: Lolita (Adrian Lyne, 1997) © Tobis

 

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Die virtuelle „Sweetie“ lockte viele Pädophile an