Bretter, die die Welt ausbeuten

Anmerkungen zu einem vernünftigen Möbelmonster

Billy ist nichts Besonderes. Aber darin, im Nichts-Besonderes-Sein, war es immer gut. Das Regal, das vornehmlich, aber keinesfalls ausschließlich zur Aufnahme von Büchern geeignet ist, begleitet uns seit 30 Jahren beim Übergang. Beim Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen, vom WG-Zimmer zur Kleinfamilie, vom Studium zur Arbeit, vom Kein-Geld-Haben zum Sparen-Müssen. Billy macht aus dem Übergang den bürgerlichen Normalzustand, aus dem Vorläufigen das Endgültige, aus dem Nicht-Besonderen das Idyll. Billy ist ein Zentrum des neuen deutschen Kleinbürgertums. Ich kenne niemanden, der in den letzten 30 Jahren kein Billy-Regal hatte, und die meisten von uns leben noch heute damit. Nicht schlecht, aber auch nicht wirklich glücklich.

Die Kunst von Billys Design besteht da­rin, mit mehr oder weniger allem kompatibel zu sein. Der luftige Bücherschrank ohne Verzierungen und ohne Geheimfächer scheint semiotisch völlig leer zu sein, er drückt nichts aus als das Bemühen, auf möglichst wenig Raum möglichst viele Dinge unterbringen zu lassen, ordentlich und offen. Die richtige Farbwahl vorausgesetzt kann man Billy mit Sperrmüll, teuren Antiquitäten oder anderen IKEA-Elementen kombinieren. Billy ist zeitlos und stillos. Billys Dominanz entsteht aus seiner grenzenlosen Bescheidenheit.

 

Ein „ehrliches“ Möbelstück

Billy ist erschwinglich, und das Regal gehört zu den wenigen Dingen, die im Lauf ihres Marktlebens erschwinglicher geworden sind. 1979, bei seiner Einführung, kostete das Billy-Regal der Standardgröße bei IKEA noch 104 DM, heutzutage sind es 38 Euro. Das gilt nur für die Standardfarben; in Buche, Schwarz oder Birke muss man 65 Euro bezahlen. Auch bei Billy also gibt es die kleinen Unterschiede. Insgesamt verkaufte das Unternehmen bisher rund 41 Millionen Einheiten des Regals. In Deutschland waren es bis zu diesem Jahr rund 18 Millionen. Bei 82 Millionen Deutschen hat statistisch gesehen jeder viereinhalbte selber einen Billy gekauft. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein deutscher Mensch nicht eine Zeitspanne seines Lebens mit einem oder mehreren Billys verbringt, ist also gering. In aufgebautem Zustand besetzt Billy in Deutschland wesentlich mehr Raum als es die Menschen tun. Ist Billy also ein Ding, das uns hilft, den Raum zu beherrschen, oder ist es ein Ding, das längst unseren Raum beherrscht?

Billy hält ziemlich viel aus, aber keineswegs alles. Entweder muss man irgendwann mit dem Bücherkaufen aufhören oder man braucht ein zusätzliches Billy. Den nicht wirklich besserverdienenden Bücherliebhaber erkennt man an den sich signifikant durchbiegenden Billy-Brettern und deutlichen Farbunterschieden in den Billy-Wänden. Die Tücken von Billy und einigen seiner Zeitgenossen liegen aber mehr noch als in der Wohnpraxis im Ding an sich. In Billy stehen globalisierungskritische und kapitalismuskritische Bücher in einem Ding, das alle Widersprüche von Kapitalismus und Globalisierung in sich trägt. So scheint es erst einmal klar zu sein, dass Billy ein „ehrliches“ Möbelstück ist. Aber welche Lügen verbergen sich dahinter?

Alle Ikea-Widersprüche sind naturgemäß in Billy vereint. So erscheint es als Symbol der biografischen Befreiung des neuen Kleinbürgertums, das sich räumlich beschränken muss, aber nicht auf „Lebensqualität“ verzichten will, und verlangt doch eine vollständige Unterwerfung unter die Normierungen und den Verwertungsweg eines global agierenden Konzerns. IKEA verspricht in Flair und Design eine Art demokratisch-soziales Konzept, wie man es eine Zeit lang mit Schweden verband, und ist ein nomadisches Unternehmen, das zugleich die Rohstoff-, die Arbeits- und die Absatzmärkte dieser Welt abgrast und dabei weder politisch noch sozial viele Rücksichten nimmt.

 

Vollkommen alternativlos

Während der Gründer und Besitzer mit der extremen Rechten liebäugelte, wurden Billys in der DDR hergestellt, vom „Unrechtsstaat“ für den „Klassenfeind“. Ansonsten kommen die Elemente aus aller und mancher unangenehmer Herren Länder. Das kleine Familienglück des bürgerlichen Nachwuchses in Westeuropa wurde in Billys Lebenszeit noch stets mit dem Schweiß und der Entfremdung andernorts bezahlt. Billy ist ein Aufbewahrungsort mittelständischer Kultur und globaler Schuld. Und nicht einmal an seinem Ort, dem unmöglichen Möbelhaus, hält er sich an die Regeln. Das Europäische Verbraucherzentrum rügte nach einem Ländervergleich, dass zum Beispiel deutsche Verbraucher für dieselben Produkte mehr bezahlen müssen als Käufer etwa in Polen oder den Niederlanden.

Billy ist also die zur scheinbar unbedeutenden Lebensmitte gewordene Globalisierungsbeute. Und so verstehen wir plötzlich seinen Mangel an Dezenz und Eigensinn. Nicht das Möbel passt sich dem Raum ein, sondern der Raum passt sich den Möbeln an. Billy ist nicht im Raum, Billy ist der Raum. Darum ist er zugleich bescheiden und selbstbewusst. Immer lebt man in einer Korrespondenz: wie zwanghaft muss man etwas haben, was der schlichten Funktionalität entgegen steht. Ein ganz anderes Wohnelement (eine Antiquität, ein, nun ja, Kunstwerk, etwas sehr Persönliches), Farben und Bilder, irgendeine kleine Aufgeregtheit, die sich dann wiederum dem Schlichtheitsgebot unterwerfen muss. Wenn wir über Billy in unserem Wohnraum nachzudenken beginnen, erahnen wir die Macht der Dinge. Billy ist so vollkommen alternativlos wie unsere Politik, denn was wir an seine Stelle setzen könnten, wäre entweder zu billig oder zu teuer, entweder zu scheußlich oder zu schön. Dieses Ding zu diesem Preis ist nur auf diese Produktionsweise und in dieser Verkaufskultur zu haben. Wir sind Billy vollständig ausgeliefert.

Zu den Widersprüchen seiner Genesis gehört es, dass der globalisierungskritische und kapitalismuskritische Kleinbürger in Möbeln lebt, die Kapitalismus und Globalisierung nicht nur vorantreiben, sondern auch perfekt „bewahren“. Ikea ist ein globales Unternehmen. Ein entsprechend undurchschaubares Netz aus Stiftungen und Holding-Gesellschaften verbindet die Zweige des weltgrößten Möbelkonzerns. Die Zentrale liegt natürlich in der Schweiz, und mit einem eigenen Vermögen von 14 Milliarden Euro ist der Besitzer Ingvar Kamprad auch reichster Bewohner des kleinen Landes. Gleichzeitig funktioniert IKEA auch wie ein altes Familienunternehmen.

Der Patriarch selbst entspricht dem Scrooge-Kapitalisten, der mit einem alten, klapprigen Volvo fährt und nicht mehr als fünf Euro für einen Haarschnitt ausgeben will; es gibt das schaurige Märchen vom alten Mann und seinen drei Söhnen, die er gleichsam in einem Wettstreit um das Erbe antreten lässt: Sie sollten sich bewähren, vor allem bei einer problematischen Akquisition der Firma: dem Einrichtungshaus „Habitat“. Fünf Jahre lang galt es zu beweisen, ob die Kinder das defizitäre Haus zum Erfolg führen könnten. Sie scheiterten alle; und nun wird wohl der jüngste der Söhne das Erbe antreten. Eine Legende, gewiss, aber die vernünftigen Erklärungen über Aufgabenteilungen und Blablabla klingen keineswegs überzeugender. Und so steckt auch dieser Geist in Billy: der Widerspruch zwischen einem sehr alten und sehr neuen Kapitalismus. Das Symbol des ständigen Übergangs, des Selbständig-Werdens, der steten Zellteilungen ist zugleich Symbol der ewigen Wiederkehr; das Möbel der Ent-Ödipalisierung der Dingwelt ist Ausdruck des ins leicht Trollhafte gewendeten Ödipalkapitalismus.

 

Verkleinbürgerlichter Luxus

Zum jüngsten Kamprad, dem mutmaßlichem Erben, gibt es nun folgende Anekdote: Um seinen neuen Platz einzunehmen, will er seine Tudor-Villa in London verkaufen. Die aber erscheint, wie man munkelt, den potentiellen Käufern als wenig attraktiv. Der Grund: Kamprad jr. hat sie nicht mit den passenden antiken Möbeln, sondern mit den Anbauteilen seines Unternehmens ausgestattet. Das ist vermutlich auch Unfug und trifft doch unsere Ahnungen: Billy hat einen Raum so sehr in Beschlag genommen, dass er noch die Luxus-Immobilie so grotesk verkleinbürgerlicht, dass sie als Wert nicht mehr zu retten ist.

Manchmal sehe ich meine Billys mit verfinstertem Blick an. Es ist ihnen egal. Sie wissen ja, wie ich sie brauche.

 

Georg Seeßlen

Text: veröffentlicht in epd Film, Der Freitag, 29.10.2009