Der interessante Versuch eines dokumentarisch-historischen Kriminalromans aus der – tatsächlich – finsteren bayrischen Provinz der fünfziger Jahre

Die Vorlage des Films, der True Crime – Krimi von Andrea Maria Schenkel, fand sein Vorbild in den zwanziger Jahren: Auf einem abgelegenen Bauernhof werden sechs Menschen umgebracht, eine ganze Familie und die neue Magd. Verdächtigt wird schnell ein „Herumtreiber“, aber in dieser Familie und ihrem Umkreis geben Geiz, Inzucht, Gier und Bigotterie genügend Motiv-Kreise, und so bleibt das Verbrechen nicht nur ungesühnt, es rumort auch im kollektiven Unterbewusstsein; je mehr man es unters Schweigegebot stellt, desto heftiger. In 39 knappen Abschnitten montiert die Autorin die Aussagen von Beteiligten und Zeugen, keine metaphorischen Abschweifungen, keine dezidierten Beschreibungen, keine Identifikations- und Stellvertreterfiguren. Wer es ist, der da interviewt, bleibt im Dunklen. Ein Blick ins Grauen der Hinterland-Nachkriegsgesellschaft, die im Wegsehen und Vertuschen so bewandert ist wie in der Gefühlskälte. Ein ansprechendes Genre-Experiment; warum allerdings das Buch im Deutschland des Jahres 2006 zu einem solchen Bestseller avanciert, sollen gefälligst zukünftige Literaturpsychologie-Seminare klären. Ein Feelgood-Text jedenfalls ist es nicht.

Einer Verfilmung handelt das alles drei Probleme ein:

1. Inwieweit lässt sich der nüchterne Montagestil in einen Kinoplot übersetzen?

2. Wie konstruiere ich jene karge Authentizität, die die Autorin vor allem durch das literarische Verweigern, das Auslassen erzeugt, gleichsam durch die Unfähigkeit der Autorin, ihre Figuren in den Arm zu nehmen oder in die Fresse zu hauen?

Und 3. Soll das Ganze eher einer von den neuesten deutschen Heimatfilmen werden oder doch eher eine „Bestsellerverfilmung“? Was nicht nur eine stilistische, sondern auch eine produktions­ökonomische Entscheidung ist.

Die Produktion hat, um es klar zu sagen, in allen Belangen versucht, einen Kompromiss zu finden. Zum Ersten hat man dann doch lieber eine zweite Erzählebene eingezogen und mit einer ins Dorf heimkehrenden jungen Frau eine Identifikationsfigur geboten. Allerdings wollte man die auch nicht einer platten Fernsehserienfunktion unterwerfen; die Figur ist interessant, nicht nur, weil sie von Julia Jentsch gespielt wird, sondern auch, weil sie dauernd drauf und dran scheint, sich von der Verdrängungs- und Kältekrankheit dieses Dorfes anstecken zu lassen. Zum Zweiten: Der Schauplatz wie die Sprache sind zusammengesetzt, Ort und Zeit sind virtuell. Das macht es den Zuschauern leichter, tannöde Orte gibt es im Sauerland und in der Eifel ebenso wie im Bayrischen Wald. Aber in diesem metaphorischen Puzzle von vager Vergangenheit und vager Ödnis verschwindet ein wesentlicher Bestandteil des Romans: Die literarisch verbannte Metaphorik schleicht zur visuellen Hintertür wieder herein. Zum Dritten: Man verwendet ikonographische und dramaturgische Elemente des neuen deutschen Heimatfilms (das Motiv der belasteten Rückkehr, die Ungleichzeitigkeit, Pastellisierung und Nachdunklung), verlässt sich dann aber doch eher auf Stars, auf Glättungen und allgemeinverbindliche Auflösungen. Was als historisches Symptom, eine moralische und kommunikative Lähmung inmitten der Zeit des Aufbruchs und des Wirtschaftswunders, der medialen Seelengeschichte der BRD widerspricht, verliert als allgemeine Provinzmetapher erheblich an Brisanz.

Der Film ist nicht historisch genug, um etwas vom Werden der deutschen Gesellschaft zu vermitteln, aber auch wiederum zu historisch, um seine moralische Nutzanweisung aktuell werden zu lassen, nämlich die Frage zu stellen, wo in der Passivität, im Augenschließen und Verschweigen die Mitschuld beginnt.

Alle Beteiligten, von der Regie bis zu den Schauspielern, sind an die Aufgabe, aus einem merkwürdig quer stehenden Text, der, wie man so sagt, einen Nerv getroffen hat, ein mainstreamfähiges Stück Qualitätskino zu machen, mit handwerklichem Geschick und künstlerischer Leidenschaft herangegangen. Meistenteils. Fatalerweise aber war diese Aufgabe von Anfang an unlösbar. So bleiben von dem, was hätte ein revivre von Heimat als Horror werden sollen, nur die Spuren einander durchkreuzender Genres und Konzepte. Das Bild trügt: Dieses Tannöd brennt nicht.

 

Autor: Georg Seeßlen

Text veröffentlicht in epd Film 11/2009