Angesichts des an allen Ecken und Enden aufsprießenden Halb- und Ganzfaschismus in unserer Gesellschaft, dem Begräbnis der Hoffnungen auf ein nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch (demokratisch) und kulturell geeinigtes Europa, angesichts der hässlichen Machtkämpfe, die unsere politische Klasse ausruft, statt ihrer humanistischen und zivilisatorischen Pflicht zu folgen, angesichts einer Intelligenz, die verzweifelt oder lieber gleich zu den Halbnazis wechselt, einer von allen Seiten bedrohten, und doch tapfer sich wehrenden Zivilgesellschaft, die schon eine Minderheit im eigenen Land bildet, angesichts eines offenbar unabwendbaren „Handelsabkommens“ TTIP, das die Welt, so wie sie ist und mit allem drum und dran, den Weltkonzernen zum Fraß vorwirft und in Geheimverhandlungen die Entmachtung der parlamentarischen Demokratie, der kritischen Öffentlichkeit und der unabhängigen Justiz beschließt, angesichts der Unfähigkeit und des Unwillens wenigstens Minimalziele zur Erhaltung von Umwelt und Klima zu erreichen, angesichts aber auch der alltäglichen Erfahrung von Gleichgültigkeit, Roheit und Verblödung der Mitmenschen – wie viel Optimismus kann man sich da noch gönnen ohne diesen Gesichtsausdruck, den schon ein Kind durchschauen kann: Das glaubt der/die doch selber nicht!

Aber halt! Ist das nicht „Jammern“? Und sind, jedenfalls im richtigen Leben, nicht Menschen, die jammern schon hinreichend als lästig, langweilig und kontraproduktiv erkannt? Jammern ist die Waffe der Feiglinge. Richtig? Und weil man sich schon so schön an das „Fremdschämen“ gewöhnt hat… (Ach, wenn wir doch jedesmal einen Euro bekämen, wenn jemand „Fremdschämen“ sagt, der sich weder für sich selber noch für irgendjemand anderen noch zu schämen in der Lage ist!) Wie wäre es nun mit „Fremdjammern“?

Weil mir niemand mehr zuhören will, wenn ich über meinen eigenen Zustand jammere, dann jammere ich eben über den Zustand der Gesellschaft, des Staates, der Welt. weiterlesen

Georg Seeßlen

Foto © R. Sage