BÜCHERBRIEF AN PIEKE | 

liebe pieke,

und wie recht du hattest von wegen infinite jest: ‚oreo‘ zu lesen, ist ein höllenritt von vergnügen, die einfälle und die anliegen und die verwandelten mythen: als sei der baum der erkenntnis zu einem ganzen wildpark verwuchert, und fran ross hat sich auf ihrem galopp da mittendurch alles abgepflückt, was den sinn ins phantastische wachsen läßt. du mußt, trotz all der arbeit (die schiere seitenzahl: bei der vorstellung an die dafür nötigen stunden ergreift mein hirn die flucht), bei deinem artenreichtum an einfällen einen heidenspaß mit der übersetzung gehabt haben: in welchem tresor bewahrst du ausdrücke wie logodialyrrhhötisch auf. oder perhorreszieren. oder pyrophilöse ekstase, ordosegekrümmter teenager, wadenknuddelnde stiefel, sigmoider torso. und „ziernaht am zierat“ ist auch nicht von pappe. (schaffst du es eigentlich, auf veranstaltungen daraus zu lesen, ohne von lachanfällen gebeutelt zu werden?). und nicht nur bei der passage über das empire state building hab ich seit langem mal wieder an die wandmalerei im frankfurter nordend gedacht: vor keine ahnung wie vielen jahren stand an da einem haus die bohrende frage: ist der penis ein phallisches symbol. weißt du, eigentlich sollte man den verbohrten identitätsbeharrern ‚oreo‘ in die hand drücken: vielleicht lacht ihr mal lieber ne runde zum thema, leute, anstatt euch in immer kleinere rechenkästchen zu sortieren: wieviel bürokratie wollt ihr noch. und wenn sie von „mißgendern“ reden: als würden waren falsch ausgepreist: haben wir früher nicht mal gegen etikettierungen gekämpft? was soll jetzt diese manische unterwerfung darunter, identität reduziert: sieht so freiheit aus? der leuchtend klare artikel, in dem du, auch das schon vor jahren, auf adorno verwiesen hast, auf seine warnung, die setzung von identitäten hätte mit intoleranz zu tun und „nach auschwitz geführt“. tja, wie felix in einem anderen zusammenhang geschrieben hat: dummheit kostet. manchmal sogar das leben.

und wunderbar passend steht in den ‚bleichen füchsen‘, die ich grad gelesen hab: identität = fluch. und drei seiten weiter: „für die gesellschaft ist es nötig, daß wir eine identität haben, damit sie uns kontrollieren kann. wir müssen diese logik durchbrechen.“ ist überhaupt ein großartiges buch von yannick haenel, erschienen 5, 6 jahre vor ‚halt deine krone fest‘ (das ich vor 2 jahren verschlungen hab), voller poesie und politik und gründlichen gedanken, und schon hier treibt der bretone mit der einsamkeit und der wahrheit (und den sternen) sein loderndes spiel: seine sätze sind tunnel, durch die man hinaus in die freiheit gelangt. glaubt man: dann erkennt man, sie sind eher schützengräben oder hinterhalte, aus denen heraus man die feinde der freiheit anzugreifen hat. so bücher sind bitter nötig, ich hoffe, sein nächstes findet bald den weg in die deutschen buchhandlungen. und zu mir (eins gibts noch, das ich nicht kenne und das dich auch interessieren könnte: ‚das schweigen des jan karski‘).

noch ein buch zum thema (was auch immer das thema ist, das buch handelt davon): die gespräche, die bob dylan geführt hat, mit sich hat führen lassen: wobei er die journalisten, die anfangs dumm genug waren, ihn vorführen zu wollen, sehr phantasievoll an der nase herumgeführt hat, eine lust, das zu lesen. wie einfallsreich und blühend er sich jeder festlegung entzieht (das, was ich weiß nicht wer mal gesungen hat: ich bin nicht zu fassen, ich nicht, praktiziert dylan wie eine akrobatische übung): und er spielt, wenn sich einer der verarschten über seinen schabernack aufregt, den ball zurück: er versuche nur, die fragen „so gut zu beantworten, wie sie sie stellen können“. und: ein bißchen, sagt er (nach dem warum seiner verehrung für brigitte bardot gefragt), müssen sie schon auch selber nachdenken. und er sagt (ha, nehmt ihr kleingeister): „man darf nicht alles, was einem nicht gefällt, als persönlich beleidigung auffassen.“ große klasse. hinter der gischt seiner geistreichen tolldreistigkeit ist jedoch eine tiefdunkle ernsthaftigkeit spürbar, die über die jahre immer unverstellter wird: in dem maß, in dem die fragen genauer werden, interessierter, läßt sich auch dylan mehr auf sie ein, nimmt stellung, nicht nur zur musik: er greift den großen themen unter den rock: massen und manipulation, die fragwürdigkeit des fortschritts, ethos, geschichtslosigkeit, der fadenschein von politik („politik ist entertainment. eine art sport. etwas für die schönen und reichen. die mit den maßanzügen. partyleute. politiker sind austauschbar. (…) die tatsächliche macht liegt in händen von ein paar kleinen gruppen von leuten, und ich glaube nicht, daß wir deren namen kennen.“), schauspielerei und wahrheit, und daß sich, was wesentlich ist, im laufe des lebens verschiebt: „am anfang fragt man sich, warum man diesen blauen pyjama gekauft hat und später fragt man sich, warum man geboren wurde.“ man könnte zu vielem, was die menschen heute so umtreibt, dylan zitieren: und hätte ins schwarze getroffen.

oder (geht mir grad durch den kopf und hat garantiert nix damit zu tun) wie ein fotograf aus hamburg mal so hübsch verdreht gesagt hat, „das schlägt dem hirsch die krone aus“. die wahrheit bei den bleichen füchsen, die wahrheit, von der dylan spricht (und er unterscheidet zwischen der, die man weiß, und die, die man fühlt: und nur die, sagt er, wird als echt empfunden), und, drittes buch, die wahrheit bei leslie jamison: und die schwierigkeit, diese (oft unerträgliche) wahrheit durch literatur, durch fotografien zu vermitteln. oft und oft geführte diskussionen: daß fakten nicht identisch sind mit wahrheiten, daß konstruierte wahrheit sehr wohl möglich ist (und obwohl ich max frisch nicht sonderlich schätze: aber sein satz, „die wahrheit kann man nicht beschreiben, nur erfinden“ gefällt mir), daß arrangierte wirklichkeit nicht zwangsläufig eine lüge ist: um diese und ähnliche aspekte kreisen die texte in ‚es muß schreien, es muß brennen‘ (gibt natürlich auch liebe und leid und mutterglück), essays: schreibt der verlag: aber sie haben eher den charakter von reportagen. zwitterwesen. sie hinterlassen einverständnis und anerkennung: und merkwüdigerweise sowas wie ungenügen. wahrscheinlich liegt es an der heftigkeit des titels: er erweckt den wunsch nach einer sprache, die wirklich tiefgeht: die worte sollen das glas nicht nur zerkratzen, sie sollen es zertrümmern, die seiten ein scherbenregen: und das ist nicht. dennoch: kein schlechtes buch, ganz und gar nicht: und absolut ehrlich. vielleicht ist auch das der wunde punkt, den jamison an einer stelle selbst auf den satz bringt: kann man zu ehrlich sein. nicht unbedingt: aber man kann aus der ehrlichkeit eine nummer machen, die zu groß ist für das, was da ausgesagt wird. die schonungslosigkeit, mit der jamison über sich herfällt, ihre selbstbezichtigung, ihr vorgetragenes mea culpa: schaut her, ich wars. als würde sie entsetzliche schandtaten offenbaren: es sind aber nur ganz normale menschliche schwächen.

ach, und weils so schön ist, zum abschluß nochmal dylan: „aber all die paranoiden leute, die angst haben, es könnte jemand kommen und ihnen ihr klopapier wegnehmen die sterben.“

und wie du weißt, pieke: wartet die blaue bank im garten

bis dahin und überhaupt ganz herzlich

ingrid

© 2021 ingrid mylo

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cover: © Verlag

Fran Ross: Oreo

Roman aus dem Amerikanischen von Pieke Biermann

dtv 2019. 287 S. € 22,-

 

 

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Yannick Haenel: Die bleichen Füchse

Roman aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Rowohlt 2014. 189 S. 18,95 (oder antiquarisch)

 

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Bob Dylan: Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist

Gespräche aus 60 Jahren aus dem Amerikanischen von Bodmer, Deggerich, Detering, Reiber

Kampa 2021. 351 S. € 24,-

 

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Leslie Jamison: Es muß schreien, es muß brennen

Essays aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz

Hanser Berlin 2021. 318 S. € 25,-

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