Nicht nur über Michael Köhlmeier und ‚Das Schöne‘

I.            In ‚Weißer Sprung‘, einem Gedicht für eine zum Schweigen gebrachte Poetin, stehen die Zeilen: „Streich den Efeu // aus deinem Gesicht, // sie werden es tun: // der Schönheit // die Flügel ausreißen“. Sie haben es getan, unzählige Male, sie tun es gerade erneut, in der blinden Überzeugung, die Guten zu sein: das macht es besonders verwerflich.

II.        So viele Zettel, so viele verschwendete Worte: und immer noch hab ich, was ich über die Schönheit begonnen hab, mindestens gute elf Mal, nicht geschrieben. Zu viel darüber geredet, mit Freunden, am Telefon, in den Cafés: manchmal hilft das, die Gedanken aus dem Hirn zu ziehen, meist ist es schädlich, zersetzt, was am Entstehen ist: was schließlich auf dem Papier stünde, wäre Wiederholtes, zerfasert, leblos gekaut, grau. Inzwischen hat es sich ein anderer zu eigen gemacht, ‚Das Schöne’, heißt Köhlmeiers Buch. Als ich vor Monaten die Ankündigung las, dachte ich anfangs, Scheiße, schnell war ich erleichtert: er hat es mir abgenommen, ich muß nicht mehr ran.

III.       Und es ist wunderbar, Köhlmeiers Buch, seine 59 kurzen Essays über das, was ihn bewegt: Rätselhaftigkeit, gute Dämonen, Sprachverwirrungen, Bob Dylan, das Glück, immer wieder das Glück, Huck Finn, das Herz der Finsternis, Märchen, die Virtuosität von Rockgitarristen, Pathos und die Lust darauf: er hat diese Eskapaden, sehr zu recht, 59 Begeisterungen genannt. Und löst exakt das mit ihnen aus: Begeisterung.

IV.       „Die Menschen haben die Poesie aus ihrem Leben verbannt“, schreibt Manuel Vilas in seinem Roman ‚Was bleibt, ist die Freude‘, „deshalb gibt es so viel Unzufriedenheit, Bitterkeit und Hass.“ Nicht nur die Poesie: 2022, auf der noch sogenannten Documenta 15 in Kassel, haben sie mit der Aufforderung „Make friends not art“ auch der Kunst den Krieg erklärt. Wie so oft in einer Zeit, in der es Zerstörungen hagelt und der Untergang kaum „einen Schuß entfernt ist“ (Stones), wird das Schöne geschleift: als gäbe es, wenn die Welt brennt, kein Recht auf Rosen. Als ginge es nicht genau darum: dieser Zerstörung die Schönheit entgegenzusetzten, gerade und erst recht dann. Viele Vietcong-Künstler haben während des elenden Krieges Idyllen gezeichnet, Bilder gemalt von ihrer Sehnsucht nach Augenblicken ohne Gewalt, ohne Blut, haben sich hingesetzt, abends, nachts, in den Pausen zwischen den Gefechten, Werke gefertigt von ihrem unbedingten Wunsch „nach Beruhigung der zerrissenen Nerven, nach Erneuerung des Privatlebens in einer wiederhergestellten, von den Verheerungen des Krieges befreiten Natur“ (Felix Hofmann in ‚Das 100-Tagebuch‘). Dinh Q. Lê hat sie gesammelt, diese Zeichnungen der ‚Künstler-Soldaten‘: auf der documenta(13) von 2012, der letzten großen, war seine Installation zu sehen. Und in wie vielen japanischen Filmen schäumt über dem brutalen Mord der Blütenschnee eines Kirschbaums. Keins nimmt dem anderen die Dringlichkeit, die Schärfe, das Sein. Und beides ist wahr.

V.        Die Dummheit: Kunst zu verachten, in die Schranken zu weisen, den Rinnstein hinunterzuspülen, zu verbrennen, was immer: diese Dummheit haben viele begriffen. Die Gefahr nicht: wer die Kunst bekämpft, bekämpft, was uns menschlich macht. Ohne die Kunst, hat nicht nur einer gesagt, sind wir Barbaren. Ohne die Schönheit: Monster. Wer die Schönheit verneint, bereitet dem Totalitarismus den Boden.

VI.       Und Köhlmeier schreibt vom Schönen, von der Sehnsucht, von der Seele und ihrer Verführbarkeit, von der Wahrheit schreibt er und von der Weisheit, von gut und böse und der Umwertung aller Werte und setzt die „entartete Kunst“ des Dritten Reiches in Zusammenhang mit dem ideologischen Feldzug, der heute als „kulturelle Aneignung“ ein Miteinander, ein Durchdringen der Kulturen ausschließt. „Ein nationalistisch bis rassistisches Denken, das darauf aufpasst, das jeder neben seinem eigenen Häufchen hockenbleibt, ist abstoßend, lächerlich und letztlich kulturtötend.“ Philosophierend tanzt er, nein, nicht tanzt, so spielerisch nicht, eher schlendert, eher spaziert, immer noch nicht das treffende Wort, vielleicht flaniert, ja: flaniert Köhlmeier im Gespräch mit sich und dem, was er an Themen ins Auge faßt, durch die Seiten, durch die Zeiten, Daidalos, Shakespeare, Platon, Augustinus, Homer, er sagt Mythos, er sagt Blues, er sagt Begeisterung, verweist auf Goethe, dem die Begeisterung als das Beste am Menschen galt. Können Bürokraten das: sich begeistern. Können es Algorithmen?

VII.      So, wie wir ohne Kunst, ohne Kultur Barbaren sind, sind wir ohne das Überflüssige, Nutzlose: bloße Roboter. „[…] ist nicht alles, was wertvoll ist, nutzlos?“ fragt Ilja Leonard Pfeijffer in ‚Monterosso mon amour‘. Und: „Nutzlosigkeit ist per se eine Form von Widerstand“, schreibt die Essayistin Rebecca Solnit in ihrem Buch ‚Orwells Rosen‘, „das, was als nutzlos gilt, erfüllt in Wahrheit subtilere Zwecke.“

            Während einer der Hungersnöte in China bestand eine staatlich angeordnete Maßnahme darin, alle Hunde im Land zu töten: die Tiere, zu nichts nütze, würden den Menschen das wenige Essen auch noch wegfressen. Der Fotograf Frank Horvat erkannte in diesem bürokratischen, auf strikte Effektivität ausgerichteten Akt das eigentliche Übel: die der scheinbaren Menschenrettung zugrundeliegende Unmenschlichkeit, die ihn entsetzlicher ankam als all die Hungernden, Verhungernden und Hungertoten. In jüngster Zeit, während der Pandemie, fielen die Hunde in China erneut einer Kampagne zum Opfer: aus abergläubischer Furcht vor Ansteckung wurden sie massenhaft gejagt, eingefangen, mit Knüppeln halbtot geprügelt, in Säcke gestopft, auf die weiter eingeschlagen wurde: wie schnell auch die Angst Menschen in Ungeheuer verkehrt.

VIII.    Ein Zitat von Anita Albus auf der Rückseite ihres Prachtbandes ‚Affentheater‘ endet mit dem Satz: „Es ist zeitgemäß, auf die Schönheit der Dinge hinzuweisen, die wir im Begriff sind, zu zerstören und zu verlieren.“ Allein das silbrige Lichtblau des Lesebändchens zwischen Meerkatzen, Schwarzgorillas und Tamarinen: wie der Schweif eines Kometen nach Erfüllung des Wunsches.

IX.       Oder ein Wort, schön wie Feenglas: wer weiß schon noch, was geschehen ist, um diesen Namen hervorzubringen, in welche Geschichten hinein er sich öffnet, Bergwerke, Silber, die Schlacke, in der das Blau märchengleich ruht, einer der Schatten, die die Schönheit wirft.

X.        Und die kleinen Schönheiten eines Romans, der sich ganz anders gebärdet: als fürchte er, ihrem Einfluß zu unterliegen, hält Mirko Bonné, ja, was eigentlich: das Poetische, das Schöne? mit Nüchternheit und furchtbar vielen eisernen Klammern, in denen er abwiegelt, zurechtrückt, ergänzt (hat er gezählt, wie viele er da errichtet hat), auf Abstand: lieber ironisch, das stärkt, Schönheit macht wehrlos. Und doch fällt er ihr zuweilen anheim: mit dem schönen Titel ‚Alle ungezählten Sterne‘, mit mindestens den beiden Kapitelüberschriften ‚Botschaften im Regen‘ und ‚Der Anfang der Wahrheit‘ die, ebenso schön und schlicht, in einem Buch von Lars Gustafsson auftauchen könnten: sehr oft liest sich das Inhaltsverzeichnis dieses schwedischen Schriftstellers wie ein Gedicht. Mit Stellen, in denen Bonné blaues Licht in die Disteln fallen läßt, und mit seiner Kunst, Wissen auf eine Weise zu offenbaren, daß dieser Preisgabe eine eigene Art Schönheit innewohnt.

XI.       Mehr denn je gilt es, jenen in den Arm zu fallen, die das versuchen: der Schönheit die Flügel auszureißen. Denn die Schönheit ist es, wie Dostojewski wußte, und nur die Schönheit, die uns retten wird.

©  ingrid mylo

Michael Köhlmeier: Das Schöne. 59 Begeisterungen. Hanser 2023 / 231 S. / € 23,-
Anita Albus: Affentheater. S. Fischer 2022 / 221 S. / € 48,-
Mirko Bonné: Alle ungezählten Sterne. Schöffling & Co 2023 / 326 S. / € 25,-

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