Das Recht zu schweigen

Erst Erschrecken und Wut, dann Gruseln, Anteilnahme und Trauer: So schildert Herta Müller ihre erste Reaktion auf die Enthüllungen über Oskar Pastior. Anders als mit einer tiefen Depression und dem Wunsch, einfach nur zu schweigen, kann man darauf auch gar nicht reagieren. Das Erschrecken gilt der Tatsache, dass die Zusammenarbeit mit dem rumänischen Geheimdienst zu einem so liebenswürdigen, schüchternen Menschen, wie Oskar Pastior es gewesen ist, nicht passt. Die Wut gilt ihm, weil er über dieses Verhängnis nicht gesprochen hat – aber auch dem Umstand, dass der ganze Dreck des totalitären 20. Jahrhunderts, das doch endlich im Sumpf der Geschichte zu versinken begann, nun wieder hochkommt. Das Gruseln bezieht sich auf diese finstere Epoche, in der Irrsinn gewordene Ideologie herrschte und Denunziation den Kitt der Gesellschaft ausmachte. Anteilnahme und Trauer gelten dem Menschen, der, naturgemäß schwach und erpressbar, solchen Verhältnissen nicht gewachsen ist.

An Oskar Pastior, bei dessen Geschichte man sich scheut, von einem „Fall“ zu sprechen, versagen die schablonenhaften Begriffe „Täter“ oder „Opfer“. Er unterschrieb eine Verpflichtungserklärung, aber er tat es aus Angst davor, verhaftet zu werden. Das Verbrechen, das ihm vorgehalten wurde, bestand darin, dass er ein paar Gedichte geschrieben hatte. Sie handelten von seiner Lagerhaft in der Sowjetunion, in die er als Rumäniendeutscher nach dem 2. Weltkrieg geraten war. Dass er das Unrecht, das ihm widerfuhr, thematisierte, hieß im Jargon der Zeit: „antisowjetische Propaganda“. Also war er fällig und wurde zusätzlich unter Druck gesetzt mit seiner Homosexualität, die ja auch als Verbrechen galt. Dem potentiellen Opfer wurde eine Mittäterschaft aufgebürdet. Das ist die höchste Kunst der Perfidie, denn von jetzt an musste er, der zu den Verfolgten des Regimes gehörte, auch noch seine Schwäche und die Schuld seiner Kollaborationsbereitschaft tragen.

Jetzt heißt es wieder einmal: Warum hat er nicht geredet und öffentlich gemacht, was ihm damals widerfahren ist? Warum hat er geschwiegen? Aber welches Recht auf intime Bekenntnisse hätte die Öffentlichkeit? Die einzige, der es zusteht, diese Frage zu stellen, ist Herta Müller. Für sie war Pastior mehr als nur ein Freund. Jahrelang arbeiteten sie zusammen. Seine Erinnerungen an die Zeit der Lagerhaft verarbeitete Müller zu dem Roman „Atemschaukel“. Ihr Nobelpreis gehört deshalb auch ihm. Wäre dieser Roman anders ausgefallen, wenn Pastior mit Herta Müller auch über seine Geheimdienst-Erfahrung gesprochen hätte? Vielleicht. Doch er hat sich entschlossen, darüber zu schweigen. Wir sollten dieses Schweigen auch posthum respektieren. Vielleicht ist Schweigen angesichts der menschlichen Abgründe, die er durchleben musste, eine angemessene Haltung.

Text: Jörg Magenau