Mütter und Töchter
Kennen Sie den Thüringer Osterstern? Nie gehört? Es handelt sich dabei um die Bedeutungsmutation des sog. Herrnhuter Sterns unter dem Einfluss sog. pubertärer Zwangsverweigerungshaltung.
16 Tütchen, die jeweils mit vier Metallklammern an den Nachbartütchen in den vorgesehenen Löchern fixiert werden. Der Auf- und Abbau ist eine Angelegenheit für Freunde filigraner Handarbeit. Weshalb sie auch fraglos von meiner Tochter übernommen wurde, seit sie im Hort die erste Bastelstunde hatte. Der einzigen Person im Haushalt, die über die nötige Feinmotorik und Geduld verfügt. Darauf konnte ich mich verlassen. Jahrelang. Feste Rituale sind ja wichtig für Kinder. Jeder Psychologe sagt das.
Aber jetzt ist irgendetwas passiert. Genauer gesagt: Es ist nichts passiert. Der Stern liegt auf dem Schrank herum, nimmt Platz weg und staubt ein. In den ersten Tagen nach der weihnachtlichen Abrüstung provozierte seine Anwesenheit noch gelegentliche Bemerkungen: jemand müsste den mal auseinanderbauen. Oder: langsam stört das. Seltener ein energisches: kann den nicht mal endlich jemand wegräumen. Mit der Zeit haben wir uns an den Anblick fast gewöhnt. Es tat sich nämlich überhaupt nichts.
Vielleicht ist es das Alter. Ein Indiz beginnender Abnabelung. Ein Zeichen innerer Emigration. Ein Protest gegen die tradierte Lebensweise der alten Generation.
Sie tut es einfach nicht.
Dafür passieren andere rätselhafte Dinge. Zum Beispiel verschwinden Dinge. Manchmal sind es Schuhe. Wochenlang. Dann tauchen sie plötzlich wieder auf mit abgetretenen Absätzen oder gerissenen Riemchen.
Das lässt sich ja noch verschmerzen. Man hat notfalls immer noch ein anderes Paar im Schrank. Übrigens ein Grund, weshalb sich Frauen mit zunehmendem Altern zunehmend mehr Schuhe kaufen. Weil sie mit ihren heranwachsenden Töchtern teilen müssen. So sieht es nämlich aus, liebe Männer! Wir teilen ja überhaupt gern und bereitwillig. Unsere T-Shirts, unsere Lippenstifte und in absehbarer Zeit auch unser Auto. Nur wenn wir mit ihnen unsere Lebenserfahrungen teilen wollen, aus Sorge und Umsicht, verzichten sie.
Aber auf sowas ist man ja als moderne Mutter vorbereitet. Nicht auf alles. Neulich zum Beispiel gab es einen richtigen Notfall. Es war am Morgen, wie immer sehr eilig und die Wimpernspirale war weg. Gestern war sie noch da.
Gehst du eben so ins Büro, sagte er und tippte auf seine Armbanduhr. Männer können ja so ahnungslos sein! Ungeschminkt in die Öffentlichkeit. Da kann man gleich nackt ins Auto steigen.
Ich rannte zum Telefon, um die Delinquentin zur Rede zu stellen. Eine Frau in Eile auf der Suche nach ihren Schminksachen kann ganz schön wütend werden. Aber das Telefon war auch weg. Höhnisch blinkte mich die Anrufanzeige an. Die Sache war klar. Ich rannte ins sog. Kinderzimmer. Schon nach 15 Minuten angestrengter Suche fand ich das Telefon unter Mathebuch, Jogginghose und Plüsch-maus. Natürlich ging niemand dran. Ich hinterließ eine Nachricht in pädagogisch vertretbarer Strenge und fuhr ins Büro. Mit nackten Augen. Dort erreichte mich eine rätselhafte SMS: Was ist eine Wimpernspirale??? Sie habe alle Freundinnen auf dem Schulhof befragt, erklärte sie am Abend.
Na gut. Hätt ich wissen können, dass die Dinger jetzt Mascara heißen. Ich habe eine neue gekauft. Vielleicht sollte ich sie verstecken. Vorsichtshalber.
Aber den Weihnachtsstern lasse ich liegen wo er liegt. Da kann ich sehr ausdauernd sein. Konsequenz ist sehr wichtig beim Umgang mit Heranwachsenden. Ich werde einfach abwarten. Und deshalb bin ich mir ziemlich sicher, dass wir in zwölf Wochen einen Osterstern haben werden. Heranwachsende Töchter können nämlich auch sehr ausdauernd sein.
Text: Elena Rauch
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