Der geadelte Kleinbürger

Diesen kleinen Mann umwob die Würde dessen, der um seine Schwachheit weiss und sie zu tragen vermag. Zum Geliebten mehrerer Generationen wurde er durch die Gewissheit, dass ihm schon nichts geschehen würde, nichts geschehen könne. Der zarte melancholische Charme umhüllte den verletzlich scheinenden wie ein sanfter, undurchdringlicher Panzer. Das war die stolze Rüstung des Ritters von der einfachen Gestalt.

„Der Pauker“, hat er gesagt, sei seine liebste Rolle, neben dem Pauker-Verkohler natürlich, dem Pfeiffer. Der kleine Mann mit dem korrekten Jackett steht gegen den großen Burschen mit der Lederjacke. Der Pauker, der sich vordem listig in der Kunst des Ringens unterweisen ließ im Austausch gegen einige Regeln der deutschen Sprache, wirft den Burschen zweimal in den Sand mit alberner Würde. Dann bekommt er das junge Knie in den Bauch. Später, wenn er sich das Blut vom Mund wischt, lächelt er. Warum? In diesem sanften Lächeln unterm blutenden Mund liegt das Geheimnis des Schauspielers Heinz Rühmann, der Adel der Zerbrechlichkeit. Es ist die Botschaft dieses Lächelns unterm Blut hervor, die ihn werden ließ, was er war. Noch kein Schauspieler wurde ein Star, nur, weil er gut war, noch keines Künstlers einhundertsten Geburtstages wurde gedacht nur weil der Jubilar seine Sache gut vertrat. Das ist eine notwendige, wiewohl nicht hinreichende Voraussetzung. Den wirklich Großen eignet allen etwas Träumerisches, für das die Schauspielerei nur die Folie ist, auf der etwas tiefer liegendes schimmernde Transparenz gewinnt. Etwas, das so irrational ist wie eine Farbe, wie ein Ton. Wie ein Lächeln.

Wir pflegen im Kino die Visionen zu lieben, die wir haben von uns, die Gegen-Entwürfe zu unserer wirklichen Existenz: groß und stark, schön und klug. Heinz Rühmann stand für all das, was niemand sein will: klein und zerbrechlich, unbeholfen und schwach. Und wenn er sang Ich brech die Herzen der stolzesten Frau’n, dann war das eine komische Nummmer. So war er wesentlich näher am heimlichen Lebensgefühl der Menschen als die starken Männer des Kinos und seine schönen Frauen. In seinen Geschichten lebt dieser alte Hoffnungs-Satz von den Letzten, die einst die ersten sein werden. Und Generationen liebten ihn, weil eben das die Botschaft war, für die er stand, sechs Jahrzehnte lang: wie liebenswürdig doch die Schwachen sind. Und als er starb, 1994, mit gesegneten 92 Jahren, da war es wie ein leises Wundern: Irgendwie hatte man gehofft, der kleine Mann stünde nicht unter dem Gesetz des Lebens. Er lebte als Star seit 1931, da er „Die drei von der Tankstelle“ drehte, da war er ein 29-jähriger Schauspieler mit zehn Jahren Erfahrung und seinem ersten Flugzeug. München, Berlin, Reinhardt, Hilpert, Gründgens, die Legenden der deutschen Bühne. 1943 dreht er eine Legende des deutschen Kinos, „Die Feuerzangenbowle“. Der Film wird verboten, der deutsche Lehrer ist ein respektabler Mann, kein Trottel. Da klemmt sich Rühmann die Büchsen untern Arm und fährt ins Führerhauptquartier. Göring soll heftigst gelacht haben, so ist Premiere am 28. Januar 1944. Am 27. Januar wurden 3.715 Tonnen Bomben auf Berlin geworfen. Dürften wir also nicht lachen über diesen Film? Doch, der Vorgang bezeugt nur die Ambivalenz des Lebens wie der Kunst. Und des Künstlers. Als Heinz Rühmann 1928 Shaws „Eltern und Kinder“ spielt, erfährt er am Tag der Premiere vom Tod der Mutter. Der Beifall an diesem Abend, heißt es, sei von außerordentlicher Intensität gewesen.
Der Darsteller der kleinen Leute war tief innen ein wenig wie die, die er spielte, deshalb wohl war er so überzeugend. Man legt ihm, 1934, nahe, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen. Er tut es, aber er tut es nicht, Gründgens vermittelt Audienz bei Göring, ohne ihr die Ausreise gesichert zu haben und sich die Möglichkeit, sie finanziell zu unterstützen. Carl Zuckmayer, wie kürzlich zu lesen stand, hat ihm Charakter attestiert und Eleonore Kius, aus der Abwehr des Admiral Canaris, berichtete, dass Rühmanns geschiedene Frau ihr all das bereits in den vierziger Jahren bestätigte. Ich bin nun mal Schauspieler und spiele gern hat er gesagt: Es war die Antwort auf die Frage der Entnazifizierungskomission, warum er im Krieg so viele Filme gemacht habe. Die Furtwängler-Frage. Vielleicht lieben ihn die Menschen auch darum, dass er kein Held war. Ein ganz normaler, ganz durchschnittlicher Opportunist. Kein Held und kein Halunke, wie die Mehrheit der Menschen.
Heinz Rühmann war so etwas wie der geadelte Kleinbürger zwischen Anpassung und Selbstbehauptung und das wohl nicht nur in seinen Rollen. Vielleicht hat ihn dieser skandallos gelebte Zusammenfall von Mensch und Rolle befähigt, von seinem Publikum so in Liebe angenommen zu werden wie kaum ein zweiter. Eine Liebe immerhin, die den Wechsel der Zeiten unbeschadet überstand. Die Liebe des kleinen Mannes zu sich selbst ist ein Kontinuum.  Heute würde einer wie er wohl nicht mehr zum Star taugen. Er war nie der glitzernde Gaukler, der virtuose Jongleur. Rühmann war eher der Buchhalter – „Ich improvisiere nie“- , der vor dem Dreh auch mal die Stullenbüchse nahm. Ärmelschoner hätte man ihm schenken mögen. Und vielleicht hätte er sein Leben tatsächlich als Buchhalter zugebracht ohne dieses wunderbare Talent. Das ermöglichte ihm, den leidenschaftlichen Flieger, aufzusteigen in seinen Flugzeugen, und uns weit unter sich zu lassen. Aber er hat uns unsere Kleinheit nicht so deutlich gezeigt wie viele andere, die da oben sind. Die anhaltende Liebe ist der Dank dafür.

Text: Henryk Goldberg