Hundert Jahre Traurigkeit
Vor 100 Jahren starb Anton Tschechow, der Dichter der Verdämmernden

Das in den letzten Jahren meist gespielte Stück von Anton Tschechow ist Platonow. Der Grund dafür scheint ganz einfach: Mit diesem frühen Werk lässt sich am ehesten zeigen, dass auch Tschechow nicht mehr ist, was er einmal war. Was meint: Wir, das Publikum sind es nicht mehr.

Denn Anton Tschechow (1860/1904) ist nicht nur ein Glück für das Stadttheater und seine Schauspieler, er ist auch eine Gefährdung für beide. Denn diese traurigen, diese einsamen, diese verlorenen Tschechow- Menschen verführen wie kaum ein anderes Bühnenvolk zum Schmieren. Tschechow, das ist nicht selten das Abonnements-Konzert in den Farben und Tönen des Schauspiels. Das melancholische Stadttheatergesicht unter den weißen Stadttheaterbirken zwischen denen der brodelnde Stadttheatersamowar platziert ist, acompagniert von den weisen Stadttheaterammen und dto. Dienern. Matthias Winde chargierte auf diese Weise in Erfurt den alten Diener im Kirschgarten zu Tode und wer diesen ausgewiesenen Schauspieler dabei zusah weiß, wie grausam Tschechow auch zum Stadttheater sein kann.

Die Alternative des, so zu sagen, avancierten Stadttheaters ist kaum freudvoller. Sie sagt, und wer mag da widersprechen, die Bürger hätten sich nun lang genug an ihrem eigenen Leid delektiert, und deshalb sei es damit
nun genug der Greinerei. Man habe hinreichend viel Melancholie geschwitzt in der Gefühlssauna, das müsse nun einmal gut sein. Und deswegen seien die traurigen Tschechow-Menschen   Onkel Wanja! Astrow! Sonja!, und der melancholische Tschechow-Ton  der Tschechow-Ton! , eine Albernheit. Und also holzen sie fröhlich den Birkenwald, so wie der Kirschgarten gerodet wird. Und das ist selbst die größte Albernheit, denn man muss nicht Tschechow spielen um darzutun, wie altbacken er sei, wie unverdient. Und wenn man, das ist eine Überlegung, meint, das gegenwärtige Publikum, denn nichts anderes bildet die Bühne ab, verdiene keinen Tschechow mehr, weil es das Recht auf seine Melancholie verwirkt habe, dann soll man ihn keinen Tschechow geben.

Anton Tschechow, der auch eine wunderbare kurze Prosa schrieb, verdankt seinen bleibenden Ruhm den vier großen Dramen, die er alle im letzten Jahrzehnt des Lebens schuf, das er mit nur 44 Jahren im deutschen
Badenweiler an die Tuberkulose verlor: Die Möwe(1895), Onkel Wanja (1896), Drei Schwestern (1900), Der Kirschgarten (1900). Diese Dramen handeln alle in Russland, auf den Gütern des Landadels, in den Häusern des Bürgertum aber sie handeln auf überzeitliche Weise von Menschen. Nach Moskau! ist der redensartliche Hoffnungsruf der Schwestern, sie werden den engen Zirkel ihrer kleinen Stadt nie verlassen, sie werden Moskau nie erreichen. Der schöne Kirschgarten, seit ewigen Zeiten im Besitz der Familie, wird gerodet werden, weil die Schönheit sich rechnen muss. Onkel Wanja und Sonja werden weiterhin perspektivlos auf dem Landgut verdämmern. Das ist die Situation aller Tschechow-Menschen, das sich Einrichten im Verdämmern, das Kultivieren ihrer Ziellosigkeit. Keiner, keiner hat auf der Bühne der Langenweile ein solches Vibrieren eingeschrieben, keiner, keiner hat es je vermocht, seine Leute auf solch beredte Weise schweigen zu lassen. Tschechow, der gelernte Arzt, fährt seinen Patienten nicht übers Maul, er erklärt ihnen, und also uns,  nicht, was für schlechte Menschen sie seien. Er stellt ihnen einfach die Diagnose. Und wie ein Arzt verbindet er mit der Diagnose keine Ideologie, er stellt nur fest. Es ist vermutlich diese Absichtslosigkeit, dieses reine zweckfreie Menschentum, diese Abwesenheit von zeitgebundener Moral, was den  Tschechow-Menschen im Überzeitlichen siedeln lässt. Bei kaum einem anderen, halbwegs zeitnahen Dramatiker, also die Sonderfälle Antike und Shakespeare nicht gerechnet,  erscheint uns der Ton, die Atmosphäre so unmittelbar gegenwärtig, so vollkommen unangestrengt Zeiten und Räume ignorierend. Kein gegenwärtig Schreibender vermittelt uns so unmittelbar das Fehlen einer Raison d’etre, eines legitimierenden Daseinsgrundes.

Anton Tschechow ist nicht nur der Ermöglicher von unbegrenzter Zeitgenossenschaft, er ist auch und vor allem der Ermöglicher von unbegrenztem Theater. Er war der Hausautor des 1898 von Konstantin Stanislawski  der seinen Grundimpuls 1885 von den Meiningern empfing und Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko gegründeten Moskauer Künstlertheaters, einer der international einflussreichsten Bühnen der Theatergeschichte.
Selten lebten ein Autor und ein Theater so verschlungen, es war, als habe Stanislawskis psychologischer Realismus auf Tschechows Menschen und Atmosphären gewartet. Die Möwe, die zweite Inszenierung des weltbedeutenden Theaters, schmückt den Vorhang des Hauses.

Tschechow war auch immer wieder Herausforderung und Glückfall bedeutender deutscher Schauspieler und Regisseure, Thomas Langhoff und Andrea Breth, Jutta Wachowiak und Gerd Voss, Wolfgang Heinz und Annette Paulmann.

Diese Dramen werden nie vergehen, doch hat ihre Sehnsuchtsmelodie Nach Moskau!, Nach Moskau!, ein wenig vom Glanz ihres Klagens verloren. Mag sein, dass sich der Moskau-Ruf heute als Drohung liest, mag aber auch sein und vor allem , dass uns eine andere Sehnsucht, eine wirkliche, nicht bekannt ist.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben  2004

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine