Michael Hardt und Antonio Negri wollen die Krise ohne die Eliten lösen und setzen auf selbstverwaltete Gemeingüter

Überrascht und wie elektrisiert reagierten selbst professionelle Beobachter des Weltgeschehens auf die Ereignisse des Jahres 2011. Beginnend mit der Jasminrevolution in Tunesien fegte eine Serie von Protesten über den Globus. Im Winter brach der arabische Frühling aus, im meteorologischen Frühjahr besetzte die rebellische Jugend zentrale Plätze in Israel, Spanien und Griechenland, und im Herbst zeltete die Occupy-Bewegung in New York, Frankfurt und Auckland.

Erfreut darüber zeigten sich auch die Philosophen Michael Hardt und Antonio Negri. Das kann nicht überraschen. Seit langem plädiert das Autoren-Gespann für jene Selbstermächtigung der Bürger, die in diesen Protesten zum Ausdruck kam. Schnell griffen Hardt und Negri den Impuls auf. Bereits im Mai des folgenden Jahres legten sie eine schmale Streitschrift vor, die sie anders als ihre Empire-Trilogie nicht bei einem großen Wissenschaftsverlag veröffentlichten. Ihr neues Buch erschien, wohl um nicht zu viel Zeit nach Ausbruch der Proteste vergehen zu lassen, direkt bei Amazon. In ihm fragt das amerikanisch-italienische Duo, welches Potenzial die weltweiten Proteste für den Aufbau einer neuen Gesellschaft haben können.

Auch Hardt und Negri sind die Rückschläge nicht entgangen, mit denen sich die Bewegungen seit ihrem ersten Aufbruch konfrontiert sehen. Das Erstarken konservativ-religiöser Kräfte in Ägypten oder Tunesien und das Abflauen der Occupy-Proteste waren schon beim Verfassen des Manuskriptes erkennbar. Als temporären Rückschlag interpretieren das die beiden Philosophen, nicht als Scheitern. Ohnehin wollen sie mit ihrem Buch keine soziologische Prognose über die absehbare Wahrscheinlichkeit weiterer Revolten liefern. Hardt und Negri argumentieren viel grundsätzlicher. Für sie haben die Proteste einen Vorgeschmack davon gegeben, auf welche Weise der Status Quo überwunden – und wodurch er ersetzt werden könnte.

Die Titel des englischen Originals und der deutschen Übersetzung, die soeben bei Campus erschienen ist, verraten schon recht deutlich, in welche Richtung die Autoren denken. Declaration verweist auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, und Demokratie! ruft das utopische Potenzial einer Selbstregierung der Bürger auf den Plan. Ihre Argumentation entwickeln die Autoren in einem klaren und einfachen Stil, der zwar so manche Vereinfachung bedingt, das Werk aber auch zu ihrem zugänglichsten macht.

Hardt und Negri gehen von der Prämisse aus, dass die gegenwärtige Krise des Kapitalismus nicht durch Reformen gelöst werden kann: Der Neoliberalismus ist offenkundig gescheitert, und Konzepte wie der New Deal basieren laut den Autoren zu sehr auf den ökonomischen Realitäten des Industriezeitalters, um heute noch Abhilfe schaffen zu können. Ohnehin steht eine solche Wirtschaftspolitik bei den politisch Verantwortlichen nicht eben hoch im Kurs. Die Eliten haben spätestens in der Krise versagt, und die bestehenden liberalen Verfassungen vermögen die gewandelte gesellschaftliche Realität nicht mehr abzubilden, so Hardt und Negri weiter.

Also greifen sie eine Aussage des amerikanischen Gründervaters und dritten US-Präsidenten Thomas Jefferson auf, wonach jede Generation ihre eigene Verfassung schreiben sollte. Statt weiter auf die Rettung durch Berufspolitiker zu warten, müssten die Bürger ihr Geschick selbst in die Hand nehmen und eine Unabhängigkeitserklärung abgeben. Dann könnten sie einen konstituierenden Prozess einleiten und ein neues Grundgesetz verfassen, das auf radikaler Demokratie und einer Gemeingüterwirtschaft basiert. Ansätze zu einem solchen Schritt erkennen die Autoren in den jüngsten Protestbewegungen, in denen die Ablehnung politischer Repräsentation weit verbreitet ist. An die Erfahrungen der Aktivisten wollen Hardt und Negri mit ihren Konzepten ebenso anknüpfen wie an den politischen Wandel in Lateinamerika.

Zentral für eine neue Verfassung sind die Gemeingüter, also „etwas, das von allen geschaffen, besessen, verwaltet und verteilt wird“. Wasserwerke oder Universitäten und die Rohstoffe, mit denen sie arbeiten, sollen weder Privatbesitz noch Staatseigentum sein, sondern von den Bürgern selbst betrieben werden. Politisch entspräche dem ein Föderalismus ohne Zentralmacht, eine Art Rätemodell für das 21. Jahrhundert, für das die Versammlungen der Occupy-Bewegung Pate stehen. In diesem Zusammenhang diskutieren Hardt und Negri eine neue Form der Gewaltenteilung, die wesentlich mit dem bisherigen Konzept bricht. Wenn es keine zentrale Instanz im Sinne einer Regierung mehr geben soll, fallen Exekutive und Legislative tendenziell in eins: Die Bevölkerung regiert sich selbst und übernimmt von der Judikative auch die Interpretation der Verfassung. Im Zivil- und Strafrecht sollen die Gerichte aber größtmögliche Unabhängigkeit genießen.

In diesen Passagen zeigt sich, dass die größte Stärke von Hardt und Negri auch eine markante Schwäche beinhaltet: Sie sind Denker der Veränderung und der Bewegung. Täglichen Routinen und Beharrungskräften widmen sie hingegen zu wenig Aufmerksamkeit – und damit den Institutionen. Ihr Demokratiemodell steht und fällt mit einer politisierten und aktiven Bürgerschaft, das betonen die Autoren selbst wiederholt. Was passiert aber, wenn das Engagement erlahmt, wie es in nachrevolutionären Perioden typisch ist oder wie man es bei Occupy beobachten konnte? Wie können Instanzen in Zeiten vermehrter Passivität den basisdemokratischen Charakter der Selbstverwaltung wahren? Dazu hätte man von Hardt und Negri gern mehr erfahren.

An Grenzen stößt ihre Argumentation auch dort, wo sie die Praktiken der sozialen Bewegungen zu sehr zum Modell verallgemeinert. So dient ihnen die offene Entscheidungsfindung auf den Occupy-Versammlungen als Beispiel für praktischen Minderheitenschutz. Wenn alle an der Debatte teilhaben, verwandle sich die Mehrheit in „ein Konzert von Unterschieden“. Toleranz sei „ein wesentliches Merkmal der inneren Vielfalt der herrschenden Mehrheit“. Eine solche Haltung mag aufgeklärten New Yorkern im Protestcamp nicht schwer fallen, anderswo könnte eine Mehrheitsentscheidung aber durchaus rassistisch ausfallen. Wie würde die von Hardt und Negri erstrebte pluralistische Basisdemokratie damit umgehen?

Trotz dieser Einwände ist ihr Buch anregend, weil es die richtigen Fragen stellt. Warum sollte die Lösung der Krise nicht in mehr Demokratie bestehen? Bilden Gemeingüter nicht die bessere Alternative zu Privatisierung und staatlichen Bürokratien? Muss eine Gesellschaft, in der von den Unternehmen bis zum Profi-Fußball zunehmend Hierarchien fallen, die Gestaltung ihrer Zukunft ausschließlich in die Hände von Spezialisten legen? In Demokratie! beantworten Hardt und Negri dies mit dem gewohnten Vertrauen in die Gestaltungskraft der Menschen.

Steffen Vogel

Michael Hardt/Antonio Negri: Demokratie! Wofür wir kämpfen.
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Campus, Frankfurt/New York 2013, 127 S., 12,90 Euro

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