Ein Mann steht hoch auf einer Brücke und stürzt hinab – der eigenwillige und selbstsüchtige Secret-Service-Agent Richard Chance (William Petersen) sucht beim Bungee-Sprung von der Vincent Thomas Bridge den Adrenalin-Kick. Die an die Golden Gate Bridge erinnernde Brücke wurde neben LEBEN UND STERBEN IN L.A. (1985) zum Schauplatz zahlreicher Actionfilme, die in Los Angeles spielen. In NUR 60 SEKUNDEN  überspringt der geniale Autodieb Memphis Raines (Nicholas Cage) im Showdown einen Stau mit seinem Wagen und hier liefern sich in 3 ENGEL FÜR CHARLIE (2000) die Agentin Natalie (Cameron Diaz) und der psychopathische Killer Thin Man (Crispin Glover) im Rennwagen ein Duell. Auch der Speedracer-Reißer THE FAST AND THE FURIOUS (2001) verzichtet nicht auf die Brücke als imposante Kulisse. Der britische Regisseur Tony Scott kletterte am Sonntag den 19. August über den Sicherheitszaun der Vincent Thomas Bridge und sprang ohne Zögern in den Freitod.

Tony Scott lernte wie sein älterer Bruder Ridley (ALIEN, GLADIATOR) das Regiekunstwerk als Werbefilmer. Im Kino debütierte er mit dem elegisch-gestylten Vampirdrama BEGIERDE (1983). Der videoclipartige Militär-Propaganda-Streifen TOP GUN (1985) wurde zum Welterfolg, dessen schnelle Schnitte dem Credo der gezeigten US-Piloten entsprachen: „Ich spür die Gier, die Gier nach Geschwindigkeit in mir.“ Trotz oder wegen der großen Erfolge galt er nur als Erfüllungsgehilfe, der Filme wie BEVERLY HILLS COP II (1987) glatt und zynisch ohne eine eigene Handschrift erzählt. Doch in dem brutalen pechschwarzen Los Angeles Noir-Krimi LAST BOY SCOUT (1991) griff seine Technik perfekt. Mit Hochglanzbildern erzählt er an Hand eines alkoholsüchtigen Privatdetektivs und drogenabhängigen Footballstars über den Ausverkauf des Amerikanischen Traums. Quentin Tarantinos Drehbuch TRUE ROMANCE (1993) setzte Scott ebenso kongenial um, wenn er ein verliebtes White-Trash-Pärchen nach Los Angeles zum blutigen Koksdeal schickt. Nach einem besonders blutigen Gemetzel stammelt die Geliebte „Ich finde, was du getan hast, war… war… so… romantisch.“ Alles ist schick und zugleich hässlich. Hier zeigte sich auch deutlich, dass es Scott blendend verstand, Schauspieler perfekt aussehen zu lassen und so liefern sich Christopher Walken und Dennis Hopper einen teuflisch-tödlichen Dialog und der spätere SOPRANOS-Star James Gandolfini brillierte erstmals als monströser Schläger.

Ein letztes Meisterstück gelang Scott in dem Verschwörungs- und Überwachungsthriller STAATSFEIND NR. 1 (1998). Hier jagt eine Gruppe junger wie „hipper“ Killer und Hacker einen Anwalt, als wenn die Welt nur ein Computerspiel wäre. Unter Scotts schönen Bildern brodelt es und am Ende entfacht er wie schon in TRUE ROMANCE ein blutig-schönes Gefecht.

Im neuen Jahrhundert versuchte er mit großen Stars wie Robert Redford und Denzel Washington, mit dem er fünf Filme drehte, teils große Dramen zu erzählen, was weitgehend wie bei seinem letzter Film UNSTOPPABLE (2010) misslang. Tiefergehender Inhalte schienen ihm nicht zu liegen, aber er konnte einfachere Geschichten mit Blick für Typen und Bilder explosiv machen. Mit einem Händchen für Gewalt und Posen lieferte er einen passend spektakulären Abgang als wäre er eine seiner Filmfiguren.

Wolf Jahnke

Bild: Tony Scott bei der Premiere von „Unstoppable“, Fox