Geht im Kino das Licht aus, ist alles möglich: Das Schönste. Und das Schrecklichste

Jeder Mensch hat seinen eigenen Weg von der Wirklichkeit zu den Bildern. Meiner führt durch den suggestiven Raum alpenländischer Nachteinbrüche. Als Kind bin ich viel herumgekommen in den Hochwäldern, zu jenen dämmrigen Stunden zwischen Tag und Traum, in denen Bilder und Geräusche weder ganz wirklich noch pure Einbildungen sind. Die Erwachsenen erklären einem zwar den natürlichen Ursprung der fantastischen Bilder und Töne: So schreit ein Uhu, so sieht ein kleiner Felsvorsprung aus. Aber da ist man vielleicht schon hoffnungslos verloren an jenen träumerischen Augenblick, in dem die Empfindungen sich vom sicheren Innen ins vage Außen verlagern. So ist das im Wald, ganz anders allerdings in der Stadt. Hier sind die Straßen schwarz nicht vom Dunkel der Nacht allein, hat Raymond Chandler gesagt. In den hellen Straßen ist immer etwas los, in den dunklen kann einem allerhand passieren. Das schöne Schwarz indes – das Verschwinden der Konturen der Wirklichkeit und der Eintritt in die Welt der wahren Bilder -, dieses glückliche, schaurige Schwarz meiner Kindheit habe ich erst im Kino wieder gefunden.

Das Kino ist ein trügerischer Ort, der seinen pompösen oder modernen, seinen barocken oder technologischen Glanz nur zu einem einzigen Zweck hat: radikal zu verschwinden. Alles, was man im Kino sieht, verspricht, binnen kurzem unsichtbar zu werden. Wenn im Kino das Licht ausgeht, ist der Augenblick der größten Spannung bereits erreicht. Man schaltet sich selbst gewissermaßen aus, und manchmal bemerkt man an den Menschen neben einem, wie unterschiedlich schwierig das ist, sich nach innen zu verschließen und nach außen zu öffnen. Da kämpft einer noch mit seinen Alltagssorgen, da hat eine andere ihr Mitteilungsbedürfnis noch nicht gestillt, da greift jemand sichernd nach der Sessellehne. Früher konnte man dann ein Shhht! hören. Ja, früher! Es wird dunkel, und das heißt auch: Es soll still werden. Im Theater ist das eine Sache von Kultur, Respekt und Kennerschaft. Im Kino ist es eine Sache auf Leben und Tod. Denn wer in den nächsten zwei Stunden den Weg durch die Dunkelheit auf die Leinwand nicht findet, für den werden sie zu einer großen Qual.

Darum ist das Lichtausmachen im Kinosaal eine Sache, die ästhetisches Empfinden und, ja, Zärtlichkeit erfordert. Ein rabiates Auslöschen ist wie ein Tritt gegen das Schienbein. Doch wird der Augenblick der Verdunkelung zu sehr ausgedehnt, erscheint sie uns als künstliche Verzögerung. Hat eigentlich mal jemand die ideale Dauer für das Verdunkeln der Alltagswelt im Kino festgelegt?

Wenn im Kino das Licht ausgeht, ist das der Moment eines Übergangs. Alles ist möglich, das Schönste und das Schrecklichste. Man ist nicht mehr ganz hier und noch nicht dort. So gerät man in einen kurzen, aber heftigen Wahrnehmungsrausch. Man müsste jetzt die ganze Welt so ansehen können wie in dem Moment, wenn die Seele hinaus in die Traumsphäre gezogen wird. Unsere Rückkehr allerdings ist gewiss, das feit uns gegen die kleine Todesangst, die im Lichterverlöschen stecken mag. Ich sterbe vorläufig, um im Film wiedergeboren zu werden, als Held, als Kamera, als filmisches Subjekt. Doch manchmal ist der Traum schon nach den ersten fünf Minuten Film vorbei. Wenn man merkt, dass die imaginäre Welt sich nach denselben dummen, langweiligen Regeln bewegt wie die draußen. Dann wird die Dunkelheit lastend und zäh.

Ein Film ist ein Lichtspiel, das sich des großen Momentes des Dunkelwerdens als würdig erweisen muss. Wir könnten uns einen Menschen erfinden, der ins Kino geht, nur um den Augenblick des Dunkelwerdens zu erleben und den Saal dann schnell, bevor der Film beginnt, zu verlassen, weil er jetzt in der Lage ist, die Welt wie im Kino zu sehen.

Je größer, mutiger, verzweifelter oder unverschämter Filme werden, desto mehr handeln sie auch von der Dunkelheit. Im besten Fall sehen wir Helden, die sie besiegen. Manchmal aber greift das böse Schwarz auf der Leinwand das schöne Schwarz unserer Kino-Wahrnehmung an. Im expressionistischen Film, im Horrorfilm, im Film noir wird das dämonische Film-Schwarz zum schrecklichen Spiegel unseres wohligen Kino-Schwarz. Wir sind drauf und dran, zu bereuen, dass wir uns der Dunkelheit anvertraut haben. Schnell zurück in die Wirklichkeit, wo ist ein Licht?

 

Horror- oder Heimatfilm? Die schlimmste Strafe ist die Farbe Grau

Kein Wunder, dass zu den schönsten und zu den scheußlichsten Erfahrungen im Kino Filme gehören, bei denen Worte wie Dunkelheit oder Nacht schon im Titel vorkommen. Natürlich hat man den Mummenschanz in den Geschichten von reitenden Leichen, von Dracula, King Kong und vom Kettensägenmassaker in Texas schnell durchschaut. Doch wir sehen auch Dinge, die nie eine Kamera gefilmt hat, Dinge, die ein tückischer Beleuchter aus dem Schattenreich unserer Imagination heraufbeschwört. Von den Nächten mit Maud oder den Nächten der Cabiria muss man in diesem Zusammenhang nicht viel sprechen. Da geht es um Frauen, die ihren Glanz gegen alle Finsternis bewahren. Aber je mehr sie strahlen, desto dunkler wird der Rest der Welt.

Eine größere Strafe als das Grau hat das Kino nicht. Als die McCarthyisten in Hollywood den Film noir verbieten ließen, wurde der amerikanische Film in den fünfziger Jahren grau und genau. Jetzt sah man nicht mehr nur das, was möglich war, sondern hauptsächlich das, was wirklich da war. Das meiste davon war Schmutz. Einer der schönsten Filme über die Dunkelheit hingegen, an der Schnittstelle von Märchen und Horror, ist der einzige Film, den Charles Laughton gedreht hat: Die Nacht des Jägers. Robert Mitchum spielt einen bösen, seelenkranken Prediger, der Witwen und Kinder ermorden will. Einmal reitet er in der Nacht an einem Fluss entlang, und auf dem Wasser treiben die Kinder, die er verfolgt, in einem Boot, und am Rande des Waldes sieht man die Schatten der Tiere, der Vögel und der Schafe. Und da weiß man, wie viele Arten von Schwarz in einem Bild vorkommen können. Oder in einer Empfindung. Mitchum bringt die Dunkelheit in die Träume der Kinder wie Karlheinz Böhm in Peeping Tom das mörderische Licht seiner Kamera in die Träume der Frauen bringt. Durch die Dunkelheit zum Licht oder durchs Licht in die Finsternis – im Kino geht es immer um zu viel Sehen oder zu wenig.

Filme, in denen viel Dunkelheit vorkommt, stehen immer in Gefahr, verrückt zu werden. Ganz schrecklich dagegen sind Filme ohne Dunkelheit. Nicht erst seit der Übernahme durch die Nazis war die Ufa eine Maschine zur Zerstörung der Dunkelheit. So wie ihre Filme nichts ungesagt lassen konnten, so konnten sie auch nichts ungezeigt lassen. Sie spielten in einer Welt, in der es nichts zu verbergen gab, es gibt aber eigentlich auch nichts zu sehen, wenn alles gleichmäßig erleuchtet ist. Eine Welt ohne Dunkelheit hat keine Träume, keine Erfahrung und keine Zukunft.

Auch im deutschen Nachkriegskino liebte man die dunklen Filme nicht. Hier sind es vor allem ein paar ganz schwarze Filme, die das Kinoarchiv aus dieser Zeit überliefert, mit Titeln wie Nachts, wenn der Teufel kam. Im Heimatfilm allerdings waren die Teufel höchstens Wilderer und Schmuggler, die man erschießen konnte. Richtig Nacht wurde es im Kino nur in Paris, Rom, New York oder Chicago. Dort herrschte die helle Gewalt der Neurose oder die dunkle Gewalt des Psychotischen. Aber was gegen die Dunkelheit immer noch half, war das Erzählen und Singen. Lillian Gish macht das vom Sternenhimmel herab in Die Nacht des Jägers: Und sie singt auch in John Hustons sehr, sehr nächtlichem Western Denen man nicht vergibt. Da lässt sie sich ein Klavier in die Nacht hinausstellen, und ihre Melodie ist die letzte Barriere gegen die Finsternis, die Einsamkeit und die Indianer, die ihre Kinder holen wollen. Wenn in einem guten Western die Nacht hereinbricht, dann wissen wir, dass das, was am Tag geschehen ist, zum Teil gar nicht wahr war.

Die besten Horrorfilme und die besten Gangsterfilme sind Filme, die von der Suggestion der Nacht und von ihrer Überwindung erzählen. Vampire und Gangster huschen durchs Dunkel, doch ein Lichtstrahl kann sie alle töten: Nosferatu und Dracula, James Cagney und Edward G. Robinson. Schon lange bevor in den Star Wars und bei James Bond mit Laserstrahlen gekämpft wurde, war im Kino das Licht eine tödliche Waffe zur Bekämpfung der Träume.

Bei Alfred Hitchcock aber wird das Offensichtliche zum Grauenvollen. Nun kommt es nicht mehr auf die Bilder, sondern auf den Blick an. So streift sich der Polizist in Psycho die schwarzen Gläser der Sonnenbrille über. In Martin Scorseses Nachtfilm Bringing Out The Dead droht ein Polizist beständig damit, seine Sonnenbrille abzunehmen – dann, und nur dann, behauptet er, werde er wirklich böse. Die Sonnenbrille ist eine richtige Antwort auf die falsche Wirklichkeit in The Matrix, und Men in Black dreht die Verhältnisse endgültig um: Kinoheroen sind nicht mehr strahlende Helden, die Licht ins Dunkel bringen, sondern coole Kerle, tröstliches Schwarz in einer grellen Welt.

Natürlich hat die Dunkelheit nicht erst seit Hitchcock ihre Reinheit verloren. Im Farbfilm gibt es unendlich viele Formen des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Die Welt kann unsichtbar rot oder unsichtbar blau werden, während das Schwarz letzte verlässliche Klarheit verspricht. In einem Film von David Lynch ist etwas umso trügerischer, je klarer es erscheint. Die Leinwand gibt nun die Dunkelheit als prismatische Erfahrung zurück. Wie Hitchcock die Verhältnisse von Blick und Bild auf den Kopf stellt, so stellt er auch unsere moralische Vorstellung von Licht und Dunkel auf den Kopf. Audrey Hepburn spielt in Warte bis es dunkel wird eine blinde Frau, die von Gangstern terrorisiert wird. Erst als es dunkel wird, kann sie den Verbrechern beikommen, denn nun ist die Blinde den Sehenden überlegen. So wie John Cage in der Musik zeigt, dass Schweigen etwas anderes ist als »keine Musik«, so kann Schwarzfilm etwas anderes sein als »kein Bild«. Ob und wie lange wir das aushalten, ist eine andere Frage.

»Psycho« oder »Men in Black«? Der ideale Film ist schwärzer als schwarz

Manchmal will ein Film auch die heilige Dunkelheit des Kinoraumes mit jedem Bild übertreffen. Davon spricht die Sehnsucht der großen Kinokünstler nach dem wirklich vollständig dunklen und stillen Raum. Der black cube als Vernichtung der profanen Person in der profanen Wirklichkeit. So, wie es sich Peter Weibel erträumt: einen Raum, in dem es nichts, wirklich nichts gibt, was nicht schwarz ist. Nein, schwärzer als schwarz. Fort. Vollkommene Auslöschung. In seinen moderneren Formen nimmt das Kino diesen Augenblick der Überblendung vom körperlichen Ich zum filmischen Subjekt selbst auf. Früher pflegte das Kino, pflegten seine Bilder, seine Zeichen, seine Erzählung beim Aufziehen des Vorhangs einfach da zu sein. Später erlernte es die Kunst des allmählichen Erscheinens.

Es gibt in der doppelten Dunkelheit des Kinosaales und des laufenden Films natürlich Reste der äußeren Wirklichkeit: die Beleuchtung der Stufen, damit niemand falle; das Rascheln und Wühlen in Bonbontüten und Popcornbechern. – Warum isst man so gern ausgerechnet in der heiligen, höllischen Dunkelheit des Kinos? Um sich der Rückkehr in den eigenen Körper zu versichern! Und doch ist es dunkel genug, dass niemand unsere Tränen sieht. In der Dunkelheit ist unser Körper zugleich verschwunden und befreit. Aber wir wollen es nicht übertreiben. Deshalb sind die Reste unserer normalen Wirklichkeit im Kino beinahe genauso wichtig wie die Inszenierung ihres Verschwindens.

Am Anfang des Fernsehens hat man noch versucht, das Wohnzimmer nach der Tagesschau in ein kleines Kino zu verwandeln. Das Deckenlicht aus und dafür die kleine Fernsehleuchte an. Das hat man aber schnell aufgegeben, denn das Fernsehen funktioniert genau andersherum. Es schaltet den Körper nicht aus, es inszeniert keinen heiligen Übergang von der Wirklichkeit zur Traumwelt; das Fernsehen füttert den Wirklichkeitskörper, der sich vor dem Bildschirm nur zu gern äußert, manchmal auf durchaus obszöne Art. Man kann nicht mit dem Körper fernsehen. Man kann ihn nur demonstrativ vernachlässigen, wie es Homer Simpson tut, wenn er sich anschickt, seine Lieblingssendung zu sehen.

Aber was, wenn im Kino das Licht wieder angeht? Das ist der gefürchtetste Augenblick des Abends. Man wird sich selbst und, schlimmer noch, seinen Mitmenschen zurückgegeben. Man muss sich wieder akzeptieren und eine Welt, die ist, wie sie ist. Wenn der Film gut war, begleitet er uns aus dem magischen Raum in die Wirklichkeit. Da heißt es behutsam sein. Keine falschen Worte jetzt und vorsichtig mit dem Licht. Auch das ist eine Kunst. Geht das Licht zu schnell an, muss man sich hinausgeworfen fühlen aus dem Traum. Dauert der Abspann endlos, weiß man nicht, wohin mit sich. Nach dem Verlassen eines Lichtspiels ist das Grelle noch greller, das Dämmrige noch dämmriger. Und die Straßen sind schwarz nicht vom Dunkel der Nacht allein. Die Dunkelheit im Film ist bezwungen. Die Dunkelheit der Welt bleibt.

Autor: Georg Seesslen

Text veröffentlicht in DIE ZEIT 52/2002