Krisen-Kino

Das Krisen-Kino hat Konjunktur. Vor allem im Hauptwettbewerb, aber auch im Programm der Piazza Grande, schwelgt das Festival in düsteren Stimmungsbildern, die als Reflex auf den Zeitgeist entschlüsselt werden können. Und der ist nun mal eher schattenreich. Nicht, dass hier eine Flut von Filmen ad hoc auf die internationale Finanzmisere reagierte. Das nicht. Haben ja auch schon ein paar Hollywood-Filme zur Genüge getan. Nein, es sind Geschichten von apokalyptischen Visionen, Endzeit-Modellen und düsteren Psychodramen, die das Grau-in-Grau der bürgerlichen Gesellschaften beleuchten.

Am kunstfertigsten gelingt das bisher dem US-amerikanischen Wettbewerbsbeitrag „Another Earth“ (Eine andere Erde). Das Spielfilmdebüt des Regisseurs Mike Cahill geht von einem phantastischen Einfall aus: Plötzlich taucht ein blauer Planet am Himmel auf – Erde Nummer zwei.

Another Earth (USA 2011, Regie: Mike Cahill)

Als die Wissenschaft Kontakt aufnimmt, wird klar: Die „andere Erde“ ist ein Duplikat, ein Spiegel unseres Planeten. Alle Dummheit hienieden wird dort auch vollzogen. – Eingebettet ist das nun nicht in eine krude oder lustige oder dramatische Science-Fiction-Story, sondern, und das macht den Film wirklich außergewöhnlich, in ein verhaltenes Philosophieren über den Zustand der menschlichen Gesellschaft. Die eigentliche Geschichte ist eine komplizierte Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, die durch Schuld miteinander verstrickt sind. Langsam, ja behutsam, mit erfreulich knappen Dialogen und ohne Mainstream-Soundtrack-Sauce, wird eine große Spannung aufgebaut und dem Publikum erfreulich viel Stoff zum Nachdenken angeboten.

Nicht so ausgereift, aber dennoch sehenswert, ist der chilenische Film auf Leopardenjagd: „El año del tigre“ (Das Jahr des Tigers). Sebastián Lelio, der hiermit bereits seine dritte Regiearbeit vorstellt, erzählt von einem Mann, der im Gefängnis das schwere Erdbeben im Februar 2010 erlebt und überlebt. Er flieht, will nach Hause. Doch das existiert nicht mehr. Frau und Tochter sind verschwunden, vermutlich tot, vom Meer aus dem Leben gerissen. Später findet er die Leiche seiner Mutter in deren Haus. Er weiß nicht wohin. Will zu Verwandten seiner Frau. Zu Fuß macht er sich auf den Weg. Das Nirgendwo ist sein Ziel. Doch es dauert, eher er das begreift. – Auch hier: ruhiges Erzählen. Keine hektischen Schnitte, keine Effekthascherei. Sehr angenehm. Nur: Die Geschichte wirkt etwas unausgereift, es stellt sich der Eindruck ein, Regisseur Lelio habe angesichts der Trümmer unmittelbar nach der Katastrophe drauflos gedreht. Das philosophische Potential, das in der Ballade vom verlorenen Freiheitssucher steckt, wird nicht tief genug ausgelotet. Doch einige Bilder von archaischer Kraft prägen sich ein. Bilder fern vom üblichem Katastrophen-Kino-Schnickschnack. Und die lassen einen den ganzen Film auch als Metapher auf den Zustand der westlichen Welt verstehen. Da ist man kurz geneigt, einfach schreiend wegzurennen. Doch wohin?

In Locarno – klar, ins nächste Kino. Doch abends auf der Piazza dominieren böse Märchen vom Bösen auf Erden, am heftigsten bisher in „Red State“ (USA), einem gewaltgeladenen Thriller über religiöse Fanatiker. Und in der Minnelli-Retro? Da ist Staunen darüber angesagt, und auch Erschrecken, wie dunkel die meisten seiner Filme sind. Nichts da mit Muscial-Hollywood-Komödien-Leichtigkeit. Selbst in einer Klamotte wie „Father of the Bride“ (Vater der Braut, 1950), einem der ersten wichtigen Filmen der erwachsenen Elizabeth Taylor, der von nichts als den Hochzeitsvorbereitungen und schließlich der Hochzeit einer behüteten Tochter erzählt, wirkt alle bürgerliche Behaglichkeit brüchig. Der grandiose Spencer Tracy in der Titelrolle schient schon damals gewusst zu haben, was die neue Zeit bringen wird: verdammt viel Schlamassel. Locarno 2011 gibt ihm Recht.