Der amerikanische Ikarus

Mit „Aviator“ entwirft Martin Scorsese ein Selbstporträt im Gegen-Bild zum Mythos Howard Hughes

Alle Filme von Martin Scorsese sind Selbstporträts des Künstlers in Bewegung. Man kann den Zorn aus ihnen ablesen, Krisen der Selbstkritik und die Versuche des Regisseurs, immer wieder neu zu bestimmen, wie er einen Weg zwischen dem Anspruch findet, einen Martin-Scorsese-Film zu machen und einen Film, der die Produzenten und das Publikum dazu verführt, ihn in der Mitte der visuellen Kultur zu akzeptieren. Aviator sieht mit seinen production values, seinen Stars, seinen Effekten, seiner Helden-Konstruktion, seiner Produktionsgeschichte (ein Projekt, das Scorsese von Michael Mann übernommen hat), seinem Rhythmus und seiner cineastischen Pracht auf den ersten Blick aus, als hätte es Scorsese nach dem ökonomischen Misserfolg von Gangs of New York darauf abgesehen, wenigstens in den Mainstream hinein zu wirken. Aber Martin Scorsese kann nichts anderes als einen Martin Scorsese-Film machen.

Ein Selbstporträt ist Aviator, ein Segment aus der Lebensgeschichte des legendären Howard Hughes, Flugzeugkonstrukteur, Unternehmer, Filmproduzent und Regisseur, in den konkreten Elementen. Der Plot des Films beginnt mit den Aufnahmen zu dem Fliegerfilm Hell´s Angels (1930), einer der erklärten Lieblingsfilme von Martin Scorsese, und mit den Auseinandersetzungen des Außenseiters mit dem Hollywood- Establishment. Hughes ist ein Mensch, der zu seinen Kraftakten angetrieben wird durch eine physische Beeinträchtigung (bei Scorsese ist es das Asthma, bei Hughes die Hörschwäche). Man muss nicht in die Niederungen des Hollywood-Klatschs hinabsteigen, um zu erkennen, wie ähnlich die schwierigen Liebesgeschichten des Howard Hughes des Films Aviator zu denen des Filmemachers Martin Scorsese sind. Triumph und Scheitern sind bei beiden Menschen nicht nur nahe beieinander, sie stecken sozusagen ineinander: Jeder Triumph ist ein Scheitern, und jedes Scheitern ist ein Triumph. Das gehört zu der Position, zugleich Teil eines Systems zu sein und sich außerhalb von ihm zu befinden. Das Glück, das es nur in den raren Momenten des Entkommens gibt, im Flug, im technischen oder ästhetischen Wirklich- Machen von Träumen. Der hinausgezögerte und doch unvermeidliche Moment der Landung. Oder der Absturz. Sogar Martin Scorsese Drogen-Biografie steckt in Aviator. Und natürlich die magische Biografie des erwählten und verdammten Sohnes: Vor den Beginn der eigentlichen Handlung stellt Scorsese eine Aufnahme auf den kleinen, ernsten Jungen, der im gigantischen Haus der Familie Hughes von seiner Mutter im Badezuber gewaschen wird wie in einem heiligen, erotischen Ritus, vorbereitet auf eine Welt, die sich ihm als unterwürfige und feindselige zeigen wird. Diese Einstellung, die im übrigen in typischer Scorsese-Manier wiederholt wird, müsste genügen, um zu erklären, dass wir es auch im Folgenden nicht mit einem biopic zu tun haben, das in gewohnter Weise eine Geschichte von Aufstieg, Fall und Apotheose eines „großen Menschen“ mit den Konventionen des psychologischen Realismus zu unterfüttern versucht. Da kommt einer in die Welt, der ihr nie vollständig angehören wird. Nach der direkten Selbst-Abbildung des Filmemachers kann man Aviator auch sehen als eine Studie über eine männliche, amerikanische und dann vielleicht doch auch wieder: katholische Form der Einsamkeit in der Welt. Insofern ist es übrigens vielleicht auch mehr als eine Fügung der Produktionsgeschichte, dass Leonardo DiCaprio die Hauptrolle spielt, dessen Biografie die Passion des einsamen Mannes ist, der nie zu sagen weiß, ob ihn die Gemeinschaft als störenden Außenseiter oder als rebellischen Erlöser ansieht. Auch Howard Hughes, jedenfalls der des Mythos, war zugleich die Störung und die Vollendung des Systems, der amerikanische Unternehmer, dem Geld nie etwas anderes sein kann als ein Mittel, die Welt zu verändern und sich selbst in ihr zu erfinden.

Hughes hat von seinem Vater, der starb, als er gerade 18 war, ein Vermögen geerbt. Aber „Hughes Tool Co.“ genügt ihm nicht, er kommt nach Los Angeles, wird Filmproduzent, lanciert Filme wie The Front Page (1931), Flying Leathernecks (1951) und Scarface (1932) und Karrieren wie die von Jean Harlow; eine Zeit ist er Besitzer von RKO. Der Fliegerfilm Hell´s Angels, in den Hughes all seine Leidenschaft und sein Geld steckt, wird 1928 als Stummfilm begonnen, und als Hughes den Siegeszug des Tonfilms sieht, entschließt er sich, einen Großteil neu zu drehen, entwickelt die fliegende Kamera und erntet schließlich mit einem der ersten großen Tonfilmerfolge ein neues Vermögen. Scorseses Film konzentriert sich auf die Jahre zwischen 1930, Hughes´ Einstieg ins Filmgeschäft, und 1947, dem Jahr der ersten Testflüge mit der „Blue Spruce“. Er nimmt viele Bilder auf, die aus der Veröffentlichung dieses Lebens bekannt sind: die waghalsigen Flugszenen, in denen Hughes selber die Kamera führt, die öffentlichen Auftritte, in denen Hughes zugleich euphorisiert und verwirrt wirkt, der seinen Phobien Ausgelieferte, der sich die Haare und Nägel nicht mehr schneidet und wie ein seltsames Tier in Hotelsuiten haust. Aber jede dieser Einstellungen führt weiter zu einer anderen Bedeutungsebene: Hinter dem Porträt eines exemplarischen Menschen im Amerika der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wird das Selbstporträt des Filmemachers sichtbar; hinter dem Selbstporträt des Filmemachers das prekäre Verhältnis zwischen dem rebellischen Einzelnen und dem System, und dahinter wiederum ein Mythos und seine Dekonstruktion: der Ikarus des amerikanischen Kapitalismus, der seine materielle Macht anstrebt und einsetzt, um ihm zu entkommen, der Geld einsetzt, um der Geld-Welt in seinen Himmel zu entfliegen und nicht für die Zementierung der korrupten Strukturen – und der sich die Flügel verbrennen und abstürzen muss.

Wie die erste, so überschreitet auch die letzte Einstellung des Films die Ebene der Wirklichkeits-Repräsentation. Wir sehen Hughes, nun 42 Jahre alt, gleichsam steckengeblieben zwischen seiner Krankheit und seiner Kraft zum Visionären, in einem Satz, in einem Wort: the future. Gerade hat er einen triumphalen Flug hingelegt, hat aller Welt bewiesen, wie sehr mit ihm zu rechnen ist, da hängt er wieder fest in sich selbst, und seine Freunde müssen ihn für den Augenblick wegsperren, damit niemand ihn so zu Gesicht bekommt. Ikarus verwandelt sich in Sisyphos, und es will uns hier nicht gelingen, sich ihn als glücklichen Menschen vorzustellen.

Der zweite Hauptteil der Handlung konzentriert sich auf die technischen Entwicklungen und schließlich Hughes´ Kampf darum, mit seinen Anteilen an der maroden TWA das Monopol der Pan American Fluglinie zu brechen, die den internationalen Flugverkehr beherrscht. Nach dem Bruch mit Katharine Hepburn wechselt Hughes zwischen der jungen Faith Domergue und Ava Gardner, werkelt an The Outlaw und stürzt mit der experimentellen CF-11-Maschine auf die Straßen von Beverly Hills. Er überlebt nur knapp, kommt wieder auf die Beine, um wie Scorseses Raging Bull den Kampf wieder aufzunehmen, den er in seinem Inneren schon verloren hat.

Mit der Krankheitsgeschichte des Howard Hughes geht Scorsese so freizügig um wie bei der Auswahl der Beziehungen zu den Hollywood- Diven, die er zeigt. Die für den Howard Hughes des Films bedeutendsten Liebesgeschichten sind die mit Katharine Hepburn (Cate Blanchet) und Ava Gardner (Kate Beckinsale). In Katharine Hepburn begegnet er einer ebenso rebellischen und unabhängigen Frau, aber eine Begegnung mit ihrer hochnäsigen, snobistischen Familie bringt die Wende. Da drin, sagt er, warst du ein vollkommen anderer Mensch. Cate Blanchets Katharine Hepburn ist im Scorsese-Kosmos die erste starke Frau, die sich aus der wechselseitigen Blick-Schöpfung und aus der Mutter-Mythologie befreit hat; es ist nicht die Art, wie sie einander ansehen, die die Liebe der beiden ausmacht, es ist die Art, wie sie die Welt sehen, jeder für sich. Eben diese Enttäuschung führt zum Ausbruch einer neuen Phobie. Die Sucht nach jener totalen Kontrolle, die jede Beziehung zerstören muss. Auch Ava Gardner bleibt ihm gegenüber unabhängig; sie weist alle seine Geschenke zurück, aber sie erweist sich in den entscheidenden Momenten als Freundin. Gwen Stefani, Pop-Star, ist perfekt in der Rolle der Jean Harlow, noch nicht Traum und nicht mehr Mensch, und Kelli Garner gibt die junge Faith Domergue, die scheinbar eingepasst ins System Howard Hughes, am meisten Zerstörung anrichtet. Das hat eine tiefere Struktur: Ganz direkt (und einigermaßen aggressiv) begegnen sich da die Frauen, die Hughes „gemacht“ hat, und die, die ihn „gemacht“ haben. So wie er Angst haben muss, von der Welt durchdrungen und „vergiftet“ zu werden, so muss dieser Ikarus Angst vor der Berührung durch die Frau haben.

Scorsese ist es diesmal gelungen, seine Arbeit für ein breiteres Publikum offen zu halten. Das liegt natürlich am Star-Appeal und an den eindrucksvollen technischen Effekten mit sehr behutsamen Übergängen zwischen am Computer generierten Bildern und traditionellen Stunts. Es liegt daran, wie der Film seine Zeit, die dreißiger und vierziger Jahre, rekonstruiert, daran, wie man die Verhältnisse in den Dingen spüren kann, und wie jede Einstellung zugleich „Stimmung“ und „Diskurs“ vermittelt. Selbst die Farbe, der Wechsel vom two-tone Technicolor aus Hughes Zeiten zum three-tone Prozess des modernen Films hat zugleich seine historische Richtigkeit und seine ästhetisch-moralische Tiefenstruktur. Aviator ist einer der Filme darüber, wie Amerika wurde, was es ist, und nicht, was es hätte werden können, und insofern ein perfektes Gegenstück zu Gangs of New York. Die Geschichte der USA (und die Geschichte der Freiheit) ist nicht die von Legalisierung und Zivilisierung, sondern eine Spirale der Barbarei. Wie für alle Scorsese-Helden sind auch für diesen Howard Hughes das Scheitern und der Zorn bestimmend. Nicht zuletzt ist Aviator ein Film darüber, wie ein Krieg eine Gesellschaft verändert. Und darüber, was die Visionen eines amerikanischen Ikarus damit zu tun haben.

Georg Seeßlen