Deutsche Filmgeschichte -Deutsche Filmgeschichten

Die neue Arthaus DVD-Edition

Das Wunderbare und Furchtbare an der deutschen Filmgeschichte ist, dass es sie nicht gibt. Es gibt dagegen deutsche Filmgeschichten, die sich trennen, durchkreuzen, missverstehen, ergänzen und widersprechen. Das früheste deutsche Kino, komplett mit Kaiser Wilhelm als Filmstar, das Desolationskino am Ende [ad#unheimlich_heimlig] des Ersten Weltkriegs, das Kino der Weimarer Republik, die dämonische Leinwand oder der „Tyrannenfilm“, aber neben entfesselten Kameras auch entfesselte Männer wie Harry Piehl oder entfesselte Erotik, die endlich im beginnenden Tonfilm das Singen und Tanzen lernte, und dann, der größte Bruch (auch wenn er beharrlich verleugnet wird): das Kino des faschistischen Deutschlands, das natürlich nicht nur aus Propaganda und Riefenstahlschem Todeskitsch bestand, sondern auch ein vorgeblich unpolitisches Genrekino war, dessen Kriegswichtigkeit Goebbels stets betonte. Nachdem alles in Trümmern lag begann ein neues deutsches Kino folgerichtig mit „Trümmerfilmen“, mit Filmen, die nach den Mördern fragten, die immer noch unter uns waren, mit melancholischer Ironie die „Wunderkiner“ des Wiederaufbaus verfolgte. Aber schneller noch als die Trümmer verschwanden die Trümmerfilme. Deutschland wurde geteilt, und nun gab es auch offiziell zwei Filmgeschichten, ein Kino, das seine Ideologie dem einen oder anderen Parteiplenum verdankte, und ein anderes, das seine Ideologie der Schnittmenge aus freier Marktwirtschaft und „gesundem Volksempfinden“ verdankte. Gegen „Papas Kino“ und das „Schnulzenkartell“ gab es im Westen die Bewegung eines „neuen deutschen Films“. Und gegen das funktionärsmiefige Kino der Defa versuchten sich Filmemacher in der DDR mal hartnäckig mal trickreich durchzusetzen. Es ist schön, dass in diesen ungünstigen Bedingungen hüben wie drüben auch ein paar Filme entstanden, die auf die cineastische Weltbühne gelangt sind. Aber in beiden Kinematografien gab es nicht nur das Aufbegehren der Autoren, sondern auch wild wuchernde Träume und Bilder; mal wurden sie in der je eigenen Fassung des Wilden Westens, mal im Nebel eines Kulissen-London gefunden. Und gab es nach der „Wiedervereinigung“ des Landes auch eine vereinigte Filmgeschichte in Deutschland? Die einen sagen so, die anderen sagen so. Wie es aber scheint, ist das deutsche Kino noch mehr in viele verschiedene Filmgeschichten zersprungen: klassische Autorenfilme, neuer deutscher Heimatfilm, Berliner Schule, Migrationskino der Dritten Generation, neues deutsches Produzentenkino, Comedy-Hybride, pädagogisch vertretbare Familienunterhaltung, Ostalgie-Filme, Literaturverfilmungs-Coproduktionen, German Trash Movies… Manche dieser Filme reden einfach nicht mehr miteinander. Und ihre Macher und ihre Liebhaber tun es auch nicht. Dass es keine deutsche Filmgeschichte gibt, sondern viele deutsche Filmgeschichten, ist manchmal ziemlich spannend, und manchmal auch frustrierend.

Eines zumindest haben alle deutschen Filmgeschichten miteinander gemeinsam, nämlich dass sie alle Filme hervorgebracht haben, die es sich immer wieder anzusehen lohnt. Übrigens gilt dies auch für die weniger geachteten Segmente: Brauchten wir wirklich Quentin Tarantino, um uns zu sagen, dass unter deutschen Edgar Wallace Krimis die eine oder andere Perle zu finden ist? Kann man nicht auch bei den gezähmten Unterhaltungsfilmen der Defa die Liebe zum Handwerk bis ins Detail sehen?

Na schön, beginnen wir bei Murnaus „Letztem Mann“ und enden wir mit Alexander Adolphs „So glücklich war ich nie“. Die Geschichte eines Mannes, der seine Arbeit in einem Hotel verliert, seine Autorität, seinen Platz in der Welt, und der damit nicht zurechtkommt, wie man ihn, ganz buchstäblich, absteigen lässt. Und die Geschichte eines passionierten, eher melancholisch-komischen als bösen Betrügers, der aus seiner Sehnsucht danach, mehr zu sein als er selber ist, nicht heraus kommt. Das deutsche Kino, 85 Jahre älter, sieht immer noch mit dem zärtlichen und resignierten Blick den Verlierern zu, die in der Not zu Schauspielern ihres eigenen Lebens werden.

Und dazwischen? Es gibt noch schlimmeres Scheitern. Auf der Suche nach Gerechtigkeit nach dem Krieg, wie in Peter Lorres einzigem Film als Regisseur, „Der Verlorene“, auf der Suche nach dem eigenen Leben, wie Georg Tresslers „Halbstarke“ oder Volker Schlöndorfs „Der junge Törless“, auf der Suche nach dem kranken Mörder, wie Heinz Rühmann, ein ganz anderer Heinz Rühman in der Dürrenmatt-Verfilmung „Es geschah am helllichten Tag“, beim Ethos der Arbeit wie in Frank Beyers „Die Spur der Steine“, bei der Radikalität der Befreiung wie die Frauen in Rudolf Thomes „Rote Sonne“, bei dem Versuch, als Fremder in Deutschland zu leben, wie in Rainer Werner Fassbinders „Katzelmacher“, bei der titanischen Eroberung der Welt wie in Werner Herzogs „Aguirre“ und beim Kampf gegen die Bank wie „Lina Braacke“, bei der Suche nach und dem Entkommen vor der Vergangenheit in den Filmen von Christian Petzold, beim Daheim-sein wie bei Marcus H. Rosenmüller.

Darin, vielleicht, treffen sich einigermaßen unterschiedliche deutsche Filmgeschichten, in der Idee, besser, als von Helden und Gewinnern, von Menschen zu erzählen, die im Scheitern ihre Würde bewahren. Der deutsche Film kann beinahe alles, was andere Traumfabriken auch können, hemmungslos lügen und brutal die Wahrheit sagen, Idyllen und Alpträume erstehen lassen, die Zukunft von Metropolis oder die Vergangenheit der DDR errichten, Kiss, Kiss und Bang, Bang sowieso. Nur zu einem sind deutsche Filmemacher in der langen und breiten Geschichte unseres Mediums nie besonders begabt gewesen: für’s Happy End.


Autor: Georg Seeßlen

Text: veröffentlicht in DVD-FILMSPIEGEL sequence, Oktober 2009