Dieser ganze Kram
Ein Musical mit vielen Tricks und wenig Musik
Roxie Hart ist eine Hausfrau mit einem kleinen Talent und wäre doch gern ein Superstar. So verkauft sie sich, weil es noch kein Fernsehen gibt, im häuslichen Liegemöbel an einen Mann, der Verbindungen in der Branche hat, der kennt die Produzenten. Doch sind es nur Möbelproduzenten. Da weint Roxie und sagt Scheißkerl. Als sie es das zweite Mal tut, ist der Scheißkerl bereits tot, denn dazwischen hat Roxie ihn erschossen. So kommt sie in das Gefängnis von Chicago und hier beginnt ihr Aufstieg in den Ruhm. Denn nichts ist so schön auf dem medialen Markt, wie ein Mädchen, das ein bisschen singen kann und ein bisschen einen Kerl erschießen. Die deutsche Schauspielerin Ingrid van Bergen schrieb und verkaufte, nachdem sie ihren Liebhaber erschossen hatte, ein Buch über ihr schweres Leben.
Chicago allerdings ist kein Film, der den Menschen zum Nachdenken über den Ruhm in den Zeitalter der Medien bewegt. Die Geschichte der untalentierten Roxi und der etwas talentierteren Velma, die ihre Showkarriere als Killer-Girls dem Umstand der letalen Beseitigung störender Herren verdanken, ist einfach die Folie, der Vorwand, man muss die Geschichte nicht ernster nehmen als die jeder Operette. Allerdings, sie soll wirklich passiert sein, in den auslaufenden Zwanzigern in Chicago. Es gab, 1928, ein Stück darüber, dann, 1942, einen Film und schließlich, 1975, fertigen Bob Fosse, John Kander und Fred Ebb das Musical Chicago. Das war nie so ein rechter Knaller, aber es profitierte wohl vom Label des Dreamteams, dem die Welt das wundervolle Cabaret verdankt. All that Jazz hieß ein anderer Film von Bob Fosse, er handelte von Leben und Sterben eines Choreografen. Chicago ist gewissermaßen der Versuch, aus einer reichen Erbmasse auch die ärmeren Teile zu vermarkten. Und wie zum Troste heißt die beste und schönste Nummer And all that Jazz. Und dieser ganze Kram.
Diesen ganzen Kram, den man Geschichte nennt oder Story kann man hier weithin vergessen. Rob Marshall, der debütierende Regisseur weiß das auch und er macht es zum prägenden Stilmittel seines Filmes. Er versucht nicht, wie Cabaret es tat, eine wirkliche Geschichte zu erzählen, in der es für die Songs eine reale Begründung gibt. Er nutzt die reale Ebene als sichtbares Absprungbrett in die surreale Ebene der Show.
Mama Morton, die freundlich-korrupte Aufseherin (sehr gut Queen Latifah) tritt auf im Gefängnistrakt und schon ist sie auf der Showbühne und singt das Lied Tust du was für Mama, tut Mama was für dich. Die Frauen im Gefängnis werden gezeigt und schon wird der Knast zur Bühne, auf der die Damen den Zellen-Tango singen und tanzen, mit ihren Kurzbiografien: Eine zum Beispiel gab, als ihr Lover immer so ekelhaft Kaugummi kaute, zwei Warnschüsse ab in seinen Kopf. Eine von ihnen muss schließlich doch an den Galgen und parallel zum wirklichen Sterben stirbt sie auf der Bühne. Billy Flynn, der Anwalt argumentiert manipulierend vor Gericht und parallel dazu steppt er auf der Bühne. Das ist nicht ohne Witz, so verschränkt Marshall die Bühne mit dem Film, so zeigt er immer wieder, dass es um die Show geht, nicht um die Story. Für diese Effekte dürfte Chicago ruhig einen Oscar für den Schnitt gewinnen. Warum er aber für gleich dreizehn nominiert wurde, das ist unklar.
Die einzige Erklärung liegt in Hollywoods Bedürfnis, den Versuch zu würdigen, das Genre-Kino, eine seiner einstigen Säulen, zu reanimieren. Schließlich war kaum etwas so verträumt wie das Singen im Regen. Denn der Film selbst kann es kaum sein. Natürlich, Rene Zellweger, Catherina Zeta-Jones und Richard Gere sind gut. Aber irgendetwas fehlt. And all that Jazz ist eine Spitzennummer, aber davon hat es nicht viele. Es gibt nicht so viel von diesem Jazz, von diesem Kram, den man Musik nennt. Musik, die einer nach dem Kino mit nach Hause nehmen kann. Denn wenn der Film seine schönen Tricks gezeigt hat, wenn er den Salto aus der Realität auf die Bühne wieder einmal gekonnt vorturnte als das gleichsam Vorspiel zum Eigentlichen dann zählt nichts außer der Show. Und die braucht Musik. Wenn Jesus, sagt der Anwalt, mit 5000 Dollar in Chicago gelebt hätte, dann wäre die Geschichte anders ausgegangen. Dann, fügen wir hinzu, wäre Jesus Christ Superstar bereits so vergessen, wie es dieser Film nach seinen Oscars sein wird.
Autor: Henryk Goldberg
Text geschrieben August 2003
Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine
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