Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts 1955 (Bild: GNU)

An einem Freitag, im Juli 2003 wurde um 10.30 Uhr der deutsche Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Herbert Marcuse auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in der Chausseestraße beigesetzt. Einen Tag vor seinem 105. Geburtstag erhielt der in Berlin als Kind eines jüdischen Textilfabrikanten geborene Heidegger-Schüler und Mitbegründer der ‘Frankfurter Schule’ ein Ehrengrab unweit der Ruhestätten seines Lieblingsphilosophen G.W.F. Hegel. Die Urne mit Herberts Asche kam am Montag zuvor mit einer Maschine aus New York im Rucksack* seines Sohnes Peter Marcuse an und wurde in Tegel von der Bestattungsfirma Grieneisen in Empfang genommen, die sie in einem schwarzen Cadillac Baujahr 1957 zum Friedhof überführte. Das legendäre Leichenauto, mit dem Marlene Dietrich und zahllose Berliner Prominente ihre letzte Fahrt antraten, fuhr selber zum letzten Mal durch die Stadt, bevor es, nicht auf dem Autofriedhof, sondern im Verkehrsmuseum, sein bewegtes Dasein beendet. Dr. Rolf-Peter Lange, Firmensprecher bei Grieneisen, war 1967 Student an der FU Berlin, als Marcuse mit seinen Gastvorlesungen über „Repressive Toleranz“ und „Triebstruktur und Gesellschaft“ die 68-er Studentenbewegung inspirierte. Damals war Dr. Lange kein linker Revoluzzer, heute schwärmt er von der intellektuellen Radikalität und dem enormen Charisma Marcuses und ist stolz, den ‘Vater der antiautoritären Bewegung’, in Form eines schwarzen Plastikgefäßes eigenhändig durch Berlin zu chauffieren. „Marcuses Asche gehört in brandenburgischen Boden”, meint der luzide Leichenbestatter, „damit die preussische Idee der Toleranz und der Gedanke der grundsätzlichen Veränderbarkeit der Welt hier nicht für immer beerdigt, sondern aufgehoben wird für spätere Generationen”. Der fromme Wunsch, dass aus Marcuses krematierten Knochen die linke Revolution wie Phönix aus der Asche wiederauferstehen werde und als Gespenst im postkommunistischen Europa umgeht, brachte Sohn Peter und Enkel Harold Marcuse spät auf die Idee, den seit seinem Ableben 1979 nie bestatteten Toten in seiner Geburtsstadt beizusetzen. Nach jüdischem Gesetz muss ein Verstorbener noch am selben Tag unter die Erde gebracht werden. Herbert war nicht religiös und hielt sich seit seiner Flucht aus Deutschland fern von Israel in den USA auf, deren Staatsbürger er 1940 wurde. 1967 wurde er als Professor der University of San Diego und Vaterfigur der amerikanischen Studentenbewegung gegen den Vietnam-Krieg vom kalifornischen Gouverneur Ronald Reagan zum Staatsfeind Nr. 2 nach den Drogen-Guru Timothy Leary ernannt. 1968 reiste Marcuse an die Brennpunkte der europäischen Jugendrevolte nach Paris, Rom und Berlin und wurde dort ebenfalls als Übervater bejubelt. Danach beendete er seine Lehrtätigkeit, heiratete 1976 zum dritten Mal und publizierte fern revolutionärer Ortstermine über Karl Popper, Konterrevolution und Revolte, Kunst und Frauenbewegung und attackierte die osteuropäische marxistische Ästhetik. Wegen seiner entschiedenen Ablehnung des sowjetischen Imperialismus galt er in der DDR als Renegat und wurde an den Unis von Karl-Marx-Stadt bis Rostock im philosophischen Giftschrank verwahrt. 1979 starb er unerwartet plötzlich an Herzinfarkt nach seiner Teilnahme an den Frankfurter Römerberggesprächen bei einem Besuch des Starnberger Sees. Weil es dort kein Krematorium gab, wurde die Leiche in Salzburg eingeäschert und per Luftpost nach New Haven, Connecticut überführt. Dort verblieb die Urne auf unbestimmte Zeit in „Weller’s Funeral Home“, weil Herbert sich über das Jenseitige seiner Existenz nie den Kopf zerbrochen hatte. In seiner Wahlheimat USA wollte er nicht begraben sein, am liebsten war ihm der Gedanke, dass seine Asche bei Torre Pines über dem Pazifik ausgestreut wird, wo er zwischen den Vorlesungen oft und gern am Strand spazieren ging. Als Ricky, seine letzte Frau, 1988 an Krebs starb, realisierte Peter Marcuse als erstgeborener Sohn lange nicht, dass er jetzt für die Asche seines Vaters zuständig ist. Als Professor of Urban Planning an der New Yorker Columbia Universität hatte er wichtigeres zu tun, als dem Vater eine Nekropole zu bauen. Im Sommer 1989 reiste Peter Marcuse mit seiner Frau Frances in die DDR, um dort die Stadtplanung zu studieren. Am 7.Oktober landete er stattdessen im Rummelsburger Knast, weil er an Demonstrationen gegen die Honecker-Regierung teilnahm. Die Eindrücke vom Herbst des Patriarchen, der ein gelernter Dachdecker war, schrieb Peter Marcuse in dem Buch „Missing Marx“ nieder. Einer seiner Studenten aus Antwerpen stellte im Jahre 2001 die wohl nicht ganz grundlos verdrängte Frage: Wo ist Herbert Marcuse begraben? mit Nachdruck an die Hinterbliebenen. Der Enkel des Philosophen Harold, Dozent für deutsche Geschichte in Santa Barbara, nahm sich des Problems an und plädierte trotz innerer Vorbehalte wegen Auschwitz und Neonazis für Frankfurt oder Berlin als finale Heimstätte für Großvater Herbert’s Asche. Durch eine private Freundschaft mit dem ostdeutschen Architekturtheorektiker Bruno Flierl kam die Sache dann über dessen Sohn Thomas ins Rollen, der als neuer Kultursenator von Berlin ein Ehrengrab auf dem seit dem Ende der DDR dramatisch unter Platzmangel leidenenden Dortheenstädtischen Friedhof. So reicht es für den im Westteil der Stadt großgewordenen und von den Nazis vertriebenen Philosophen nur für eine Grabstätte von knapp ein mal einem Meter neben dem sozialistischen Komödienstadler Rudi Strahl, dem Antibrechtianer Fritz Erpenbeck und der begabten Parteidichterin Hedda Zinner. Auch Honoratioren können sich heuer in Berlin, wo mehr Leute sterben als geboren werden und mehr wegziehen als zuziehen, ihre Friedhofsnachbarn nicht mehr aussuchen. Herbert Marcuse suchte als Marxist und kompromissloser Denker die abstrakten Begriffe zu verlebendigen, indem er sie an der Wirklichkeit maß und die Wirklichkeit an ihrer Abstrahierbarkeit. Er trank das Leben in vollen Zügen und hasste alles Kleinliche, Halbherzige und Inkonsequente. Er liebte die Frauen bis ins hohe Alter und rauchte noch dicke Havannas, als in Kalifornien Joggen, Aerobic und Health Food als moderne Formen der Selbstkasteiung und Konditionierung kapitalistischer Produktivkräfte durchgesetzt waren. Dagegen helfen auch nicht seine brillianten Analysen übers Brainwashing durch Konsumterror im Land der „begrenzten Unmöglichkeiten“ Amerika Home of the Brave and Free. Doch es ist gut, dass es sie gibt, damit auch kommende Generationen sie lesen und die Chance bekommen, an der Verblödung der Menschheit durch die Medien und den stabilen Mehrheitsverhältnissen der Demokratie zu verzweifeln, um sie zu verändern. Oder es wenigstens zu versuchen. Marcuses Grab in Berlin soll uns daran erinnern, dass die Welt beschissen ist, wie sie ist und wir nichts besseres verdienen, wenn wir wider besseren Wissens akzeptieren, was nicht akzeptabel ist. Willkommen daheim im Land der Mutlosen und unfreiwillig Freien, Herbie! Friede seiner Asche und Krieg unserer sozialliberalen deutschen Trägheit.

*Der Rucksack mit der Urne des Philosophen ging auf dem Flughafen Paris-Orly verloren und tauchte erst nach einer Stunde wieder auf. Hier die Details, weil ich nicht nur Zeuge war, auch verantwortlich für den Transport von Marcuses Asche von New York nach Berlin: Ich flog mit dem Kameramann Thomas Mauch in die USA, um die späte Heimkehr des gebürtigen Berliners in seine Heimat zu filmen. Der Sohn des Philosophen Peter Marcuse fürchtete, dass er mit der Urne seines Vaters nicht durch die Sicherheitskontrolle des Flughafens JFK kommt. Das schwarze Behältnis sah aus wie eine Bombe und der Inhalt klapperte wegen der Metallklammern aus dem Toten. Deshalb deklarierte ich den Rucksack mit der prekären Fracht als Filmcargo und passierte den Security Check ohne Probleme. Im Flugzeug verstaute ich den Rucksack drei Reihen vor mir im Gepäckfach und ließ es während des gesamten Fluges nicht aus den Augen. Nach der Landung in Paris ließen wir eine Gruppe israelischer Pfadfinder zuerst aussteigen. Als sie in einem wilden Durcheinander endlich ihre Sachen an sich genommen hatten, war das Gepäckfach mit Marcuses Rucksack leer. Ich suchte alle Fächer in der Kabine ab, vergebens. „Die jüdischen Pfadfinder haben Herberts’ Asche geklaut“, rief ich meinem Kameramann zu und eilte ihnen nach. Im Terminal saßen die einhundert Jugendlichen auf dem Boden und sagen ‚Hava na gila’. Jeder zeigte mir seinen Rucksack, doch der von Peter Marcuse war nicht dabei. Inzwischen war eine Stunde vergangen und zwei bewaffnete Flics forderten uns auf, den Sicherheitsbereich der Transithalle zu verlassen. Ich sagte, ich müsse noch mal zurück zum Flugzeug, um mein Handgepäck zu suchen. ‚Ne pas ne possible!’, erhielt ich als Antwort. Weil ich mich weigerte, weiterzugehen, ich war einfach fassungslos, dass ich Marcuses Asche verloren hatte und unfähig, Befehle auszuführen, wurden die Flics handgreiflich. Als sie mich abführen wollten, sah ich am Ende des Ganges eine Stewardess der Air France. Wie ein Model auf dem Laufsteg lief sie schnurgerade mit wiegenden Hüften auf mich zu. In ihrer Hand baumelte ein Rucksack, in dem etwas klapperte.

Text: Thomas Knauf

(gekürzt erschienen in der taz)