Das Stadttheater in den Farben des Kinos

Roman Polanski rettet ein Stück durch den Film

Die Frau hat den Mann mit ihrer Pistole niedergeschlagen, ein wenig Blut rinnt ihm vom kahlen Kopf, dann hat sie ihn an den Stuhl gefesselt. Jetzt zieht sie den Slip unter dem langen Rock hervor und stopft ihn den würgenden Mann in den Mund. Was ist das? Eine lächerliche Banalität, eine brutale Obszönität, die Umkehrung einer Vergewaltigung? Im Theater, wo dieses Stück des Chilenen Ariel Dorfman weltweit gespielt wurde geriet der Vorgang häufig zur Albernheit, die artifizielle Bühne neigt dazu, forciert naturalistische Vorgänge abzustoßen. Der Film hingegen, dessen erste Sujets Lokomotiven und Känguruhs waren, ist aufnahmefähiger für Zitate aus dem wirklichen Leben. Und wenn Roman Polanski der Regisseur ist und Sigourney Weaver die Hauptdarstellerin, dann kann es schon einmal vorkommen, daß das bessere Theater im Kino stattfindet. 

Die Geschichte also, das Theaterstück, das Polanski hier authentisch verfilmte, hat eine faszinierende Konstellation. Irgendwo in Lateinamerika, kurz nach der Diktatur, ein einsames kleines Haus. Die Frau erwartet ihren Mann, er kommt spät, eine Panne, jemand hat geholfen. Als Pauline die Stimme des Samariters hört, nimmt sie die Pistole: Sie glaubt die Stimme jenes Arztes zu erkennen, der sie, als sie mit verbundenen Augen nackt unterm Neonlicht lag, damals gefoltert und vergewaltigt hat, mit seinem Körper, mit Eisenstäben und mit Strom. Und der Schubert hörte, dabei.

Wir werden nie erfahren, ob der Arzt, den Pauline gegen den Willen ihres Mannes richten will – sie wird es nicht tun – der Zyniker aus dem Keller war. Auch Pauline weiß es nicht: Das ist die politische und ästhetische Bedingung der Geschichte, so ist sie spannend und so ist sie die Parabel auf Umgang mit Vergangenheit, man wird die Spuren ins Wirkliche nicht nur in Süd-Amerika zu suchen haben, wir sind in Ost-Deutschland.

Polanski, der sich letzthin erfolglos in den psychologischen Verästelungen sexueller Tiefenforschung verlor, hat diesen Stoff gewißlich auch unter Würdigung seiner psychologischen Untiefen gewählt, gewiß interessierte ihn auch die Psyche der Frau, die ihren Vergewaltiger begegnet. Und doch rettet Polanski, der als Achtjähriger dem Ghetto entkam, während seine Mutter in Auschwitz blieb, den Stoff gleichsam, indem er sich respektvoll jeglicher spektakuläre Ausformung verweigert: Keine Rückblenden in den Folterkeller, keine verquere Erotik. Polanski spielt Theater: eine Dekoration, wenig Außenaufnahmen, drei Darsteller, die lediglich von wechselnden Kameraperspektiven vom Theater ins Kino geholt werden. Roman Polanski inszeniert Theater und vermag das Stück so auf die Ebene zu befördern, auf der es sacht zu wirken beginnt – was beim wirklichen Stadttheater selten gelang.

Was natürlich auch damit zu tun hat, daß die Städtischen Bühnen X. weder Sigourney Weaver noch Ben Kingsley besetzen können. Die Frau führt und treibt die Szene, sie setzt die Impulse. Wie diese Schauspielerin (Alien) die nervöse Gereiztheit zeigt, die unaufhebbare Verletzung der Seele, das erhebt den doch banalen Text zur Kunst. Und gleichrangig Ben Kingsley, der Gandi war und der jüdische Buchhalter, den Steven Spielerg Oscar Schindler gab. Er zeigt uns den Arzt als waidwundes Tier, als Opfer und er zeigt ihn, daß wir meinen, das zynische Geständnis wäre echt. Am Ende wissen wir es sowenig wie Paulina – und Kingsley wird es selbst nicht wissen, nur so läßt sich das wohl spielen. Dennoch, auch diese Schauspieler bringen den Stoff nicht zum Schwingen, nicht zur Vibration – dazu hätte die Vorlage radikaler Bearbeitung bedurft.

So ist dies kein großer Film, es ist ein Film wie gutes Stadttheater. Ein Film also, den anschauen kann, wer es einmal zwei Stunden erträgt ohne Sex und Crime und Gänsehaut.

Autor: Henryk Goldberg

Text geschrieben Mai 1995

Text: veröffentlicht in Thüringer Allgemeine